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Historisches

Als ein Sarg um Kunden warb und vor fast jeder Tür eine Bank stand

Jarmen / Lesedauer: 6 min

Jede Menge historische Zeugnisse aus Jarmen, verbunden mit Erinnerungen an Erzählungen und Menschen — aber auch eine Schmähkritik aus berühmtem Munde.
Veröffentlicht:25.02.2023, 11:00

Von:
  • Stefan Hoeft
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Dass Bilder und Geschichten vom alten Jarmen einen der wirksamsten Besucher–Magneten darstellen, hat nicht nur der dortige Gesprächskreis schon mehrmals bewiesen. Und so füllten sich auch bei der diesjährigen Februar–Auflage der seit 1994 von Claudia und Hans–Robert Metelmann organisierten Veranstaltungsreihe die Stuhlreihen im Saal des kommunalen Kulturzentrums an der Rosenstraße.

Schließlich war Peter Sorge vom gleichnamigen lokalen Schuhhaus als Referent angekündigt. Ein Mann, der beruflich zudem die Postagentur des Ortes managt und dort nebenbei wie eine Sammelstelle für historische Hinterlassenschaften fungiert, die mit seinem Heimatort und deren Umgebung zu tun haben.

Nun bot er erneut einen öffentlichen Blick auf einige Erinnerungsstücke aus all den dabei inzwischen gefüllten Ordnern und Kartons — vor allem in Form einer Stadtführung mit alten Fotos und Postkarten. Wobei sich unter den mehr als 50 Teilnehmern diesmal keineswegs nur die ältesten Generationen befanden, sondern auffälligerweise sogar einige unter Dreißigjährige.

Natürlich drehte es sich bei dem virtuellen Rundgang durch die vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte auch um die generelle Entwicklung Jarmens und seiner Straßen, doch mehr als sonst rückten Details am Rande und die Geschichten darum in den Blickpunkt. Wie etwa der Baum an der Südwestecke St. Mariens, den Peter Sorge als beste Möglichkeit bezeichnet, die nicht immer genau datierten Aufnahmen vom Gotteshaus und der darauf zuführenden Langen Straße in die richtige Reihenfolge zu bringen — anhand der Wuchshöhe.

Ganz ohne größere Gehölze präsentierte sich hingegen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die angrenzende Peenetal–Landschaft, wie die Fotos von Hafen und Brücken offenbarten. Schließlich wurden auch diese häufig feuchten Flächen für die Landwirtschaft genutzt, zumindest fürs Heumachen, weshalb die Menschen jeglichen störenden Bewuchs entfernten. Kein Vergleich also zu heute, wo die Umgebung ziemlich zugewachsen daher kommt.

Reger Warenumschlag am Wasser

Nebenbei lieferte der Referent eine Begründung für Planänderungen bei der 1910/11 errichteten Betonbogenklappbrücke, die 1967 ausgedient hatte: Die Durchfahrt sei um sechs Meter Richtung Breechener Seite verlagert worden, um noch mehr Freiraum und damit Anlegeplatz am städtischen Ufer zu bekommen. Schließlich lagen einst die Schiffe, Lastensegler und -kähne teils in Dreierreihen am Bollwerk, hatten die örtlichen Fischer gleich neben der Überführung ihre Stege und rollte die Kleinbahn bis an die Hafenkante.

Damals herrschte ein reger Warenumschlag am Wasser, bestimmte der Fluss viel mehr als heute das Leben der Menschen. Auch die Handwerker und Händler des Ortes profitierten kräftig davon und von der Direktverbindung nach Stettin. Ein Anruf in der pommerschen Hauptstadt konnte dafür sorgen, dass benötigte Ware bereits am nächsten oder übernächsten Tag in Jarmen anlandete — dank der regelmäßig verkehrenden Dampfer der Ippen–Linie.

Anno dazumal und bis Ende der 1960er Jahre lief der Fernverkehr über die einstige F 96 noch quer durch die Altstadt und über den Alten Markt zur Peene. Das bis heute existierende Einbahnstraßen–System von Langer Straße und Speicherstraße sorgte dafür, dass sich die Fahrzeuge in Richtung Norden und Richtung Süden bei diesen engen Gassen nicht ins Gehege kamen. Aber dieser Knotenpunkt brachte es neben der ständigen Unruhe auch mit sich, dass mitten auf dem
Alten Markt ein Hinweisschild den Weg zum internationalen Transit nach Trelleborg anzeigte.

Weniger Fahrzeuge, dafür mehr Tankstellen

Auch beim Blick auf die früheren Geschäfte entlang der Straßen ging es um kleine Einzelheiten, die alten Jarmenern in Erinnerung geblieben sind. Wie etwa, dass bei Tischler Höppner an der Poststraße häufig ein Sarg im Schaufenster um Kunden warb oder dass vor dem Laden von Fleischermeister Louis Haschtmann ein Holzpfahl stand. Er diente zum Aufhängen frisch geschlachteter Tiere, von denen sich die Leute dann ihren Teil auswählen konnten –
heute wohl undenkbar angesichts der Hygienebestimmungen.

Früher, das belegen die alten Aufnahmen, hingen die öffentlichen Laternen noch direkt über der Straße, gehalten von Seilzügen, die zumindest stellenweise fürs Auswechseln der Leuchtmittel herabgelassen werden konnten. „Und vor fast jeder Tür stand auch eine Bank zum Hinsetzen und Unterhalten“, berichtete Peter Sorge. Er wies außerdem auf die zahlreichen Tankstellen im Ort hin, damals in Form einzelner Zapfsäulen direkt am Straßenrand. Mehr als fünf soll es davon im Stadtgebiet gegeben haben, obwohl die Zahl der Fahrzeuge vergleichsweise gering gewesen sein dürfte.

Letzterer Umstand erklärt wohl auch einige heute unwirklich klingende Passagen aus der Straßen–Polizei–Verordnung der Kommune von 1913, aus der der Gesprächskreis–Referent schmunzelnd zitierte: „Die Bürgersteige dürfen weder zum Reiten noch zum Fahren mit Schubkarren, Kinderwagen oder Handwagen benutzt werden.“ Auch die Einengung der Gehwege durch das Tragen von Lasten, namentlich Wasser in Kannen oder Eimern, wurde unter Strafe gestellt. Sprich die Leute sollten damit und mit ihren Kinderwagen auf die Straßen ausweichen.

„Schlimme Straße mit knietiefen Löchern“

Dass es der über viele Generationen hinweg weithin bekannte Schmähruf „Jarmen ist zum Gotterbarmen“ kurz nach der Wende sogar in die bundesweite gelesene Presse geschafft hat, offenbarte ein besonderes Erinnerungsstück aus dem Sorge–Archiv: eine Sport–Illustrierte, die ein Einheimischer bei einem „Westbesuch“ in einer Arztpraxis entdeckte und entführte. Gefüllt unter anderem mit einer Reportage des bekannten Weltumseglers Wilfried Erdmann, der nach der Wiedervereinigung auf Ostkurs ging, um per Boot Vorpommern und das Peenetal zu erkunden.

„Eine schlimme Straße mit knietiefen Löchern führt vom Strom in das Städtchen. Im Gasthaus ‚Einsamkeit‘ in der Straße der deutsch–sowjetischen Freundschaft trinke ich zwei Tassen Mocca. Aus der Musikbox tönt derweil in Folge ‚Einer ist immer der Looser...‘. Im Lebensmittelgeschäft kaufe ich Flaschenmilch — ein Laden mit klebriger Theke, schmierigem Linoleumboden und verrosteten Einkaufskörben. Und dann auch noch alles in diesen furchtbaren Farbtönen — Farben wie verrottetes Marzipan“, schrieb der Skipper in seinem Bericht, andere Stationen kamen da deutlich vorteilhafter weg.

Allerdings sah der Ort damals auch wirklich an zahlreichen Stellen trostlos aus, wie Peter Sorge mit Farbaufnahmen aus dieser Zeit unterstrich. Die wären in Schwarz–Weiß vermutlich „schöner“ ausgefallen. Ganz anders also als das heutige Stadtbild, das häufig Lob von Besuchern erntet. Trotzdem werden sich die Jarmener wohl immer wieder gerne an die alten Zeiten und ihre Zeugnisse erinnern.