Literatur
Autorin erzählt vom Massenselbstmord 1945 in Demmin
Demmin / Lesedauer: 5 min

Tobias Holtz
Frau Keßler, Sie sind in Hamburg geboren und aufgewachsen, haben in Leipzig studiert und dort Ihre zweite Heimat gefunden. Wieso haben Sie sich für Ihren Debütroman ausgerechnet eine eher unscheinbare Kleinstadt wie Demmin als Schauplatz ausgesucht?
Mein Freund hat Verwandte in Demmin. Sein Onkel wohnt dort und dessen Frau ist gebürtige Demminerin. Beim Kaffeetrinken kam irgendwann mal das Thema des Massensuizids von 1945 auf. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nie etwas davon gehört. Aber je mehr ich mich damit beschäftigt habe, desto überzeugter war ich, dass ich darüber schreiben möchte.
In Ihrer Geschichte spielen viele markante Orte wie der Schwanenteich oder der Friedhof eine wichtige Rolle. Waren Sie im Rahmen Ihrer Recherchen denn auch einmal selbst in Demmin oder haben Sie sich das Hintergrundwissen nur über Bücher und Erzählungen von Verwandten angeeignet?
Sowohl als auch. Die Stadt habe ich während meiner Recherche gleich mehrfach besucht und dort mit vielen interessanten Leuten gesprochen, die mir ihr Demmin und dessen Geschichte näher brachten. Auch zum 8. Mai bin ich mal da gewesen, um mir selbst ein Bild davon zu machen, wie die Neonazis bei ihrem sogenannten Trauermarsch die Geschehnisse zum Kriegsende für ihre eigenen Zwecke ausnutzen und umdeuten. Natürlich habe ich auch alles an Literatur gelesen, was es zum Thema gibt. Karl Schlössers Lebenserinnerungen und die vom Nordkurier herausgegebenen Bände „Zwischen Krieg und Frieden“ waren genauso hilfreich für meine Recherchen wie der Dokumentarfilm „Überleben in Demmin“ von Martin Farkas.
Sie haben Ihrem Erstlingswerk den mystisch anmutenden Titel „Die Gespenster von Demmin“ gegeben. Was verbirgt sich dahinter?
Damit sind zum einen die zahlreichen Opfer der Selbstmordwelle gemeint, die zwar begraben aber trotzdem in gewisser Weise noch lebendig sind, da das Thema auch 75 Jahre nach Kriegsende immer noch durch die Stadt zu geistern scheint. Zumindest war das mein Eindruck. Zum anderen hat die 15-jährige Larry noch ihr eigenes Gespenst, das einen Schatten der Trauer auf sie und ihre Familie wirft. Aber ich möchte auch noch nicht zu viel verraten.
Larissa, oder Larry, wie sie von allen lieber genannt werden möchte, ist eine der Hauptfiguren in Ihrem Roman. Während die Schülerin gegen den neuen Freund ihrer Mutter und für ihre eigenen Zukunftspläne kämpft, gibt es auf der anderen Seite noch die 90-jährige Nachbarin Frau Dohlberg, die ins Heim umziehen soll und von ihrer Vergangenheit eingeholt wird. Was hat Sie daran gereizt, eine eher klassische Coming-of-Age Geschichte über eine pubertierende Jugendliche mit den traumatischen Erlebnissen einer Zeitzeugin zu kombinieren?
Nachdem ich mich länger mit der Geschichte Demmins beschäftigt hatte, hat mich besonders interessiert, wie es sich wohl anfühlt, heute in dieser Stadt aufzuwachsen und jung zu sein, deswegen habe ich mich für eine so junge Hauptfigur entschieden. Die Perspektive hat außerdem den Vorteil, dass ich mich diesem schwierigen Thema mit mehr Leichtigkeit nähern konnte. Larry geht viele Dinge naiver an, als es ein Erwachsener tun würde. Während sie nebenbei auf dem Friedhof jobbt, stellt sie sich beispielsweise die Frage, ob die Leichen im dortigen Massengrab ordentlich gestapelt wurden oder quer durcheinander liegen. Vieles, was damals passiert ist, ist für sie schwer vorstellbar. Für Frau Dohlberg ist das anders, sie war 1945 ungefähr in Larrys Alter und hat die letzten Kriegstage in Demmin miterlebt. Die Erinnerungen daran holen sie jetzt ein. Ich fand es spannend, von zwei Figuren zu erzählen, die einen so unterschiedlichen Bezug zu den Ereignissen haben.
Demmin wird in der Geschichte als eine eher triste und perspektivlose Stadt dargestellt, in der man weder leben möchte, noch begraben sein will. Oder wie es Larry formuliert: Demmin ist im Dunkeln nicht gerade Disneyland – im Hellen natürlich auch nicht. Haben Sie während Ihrer Aufenthalte in der Hansestadt wirklich so einen negativen Eindruck gewonnen?
Nein. Das ist die ganz subjektive Sicht einer fiktiven Fünfzehnjährigen und ich glaube, viele Jugendliche finden den Ort, an dem sie aufwachsen, langweilig. Ich selbst hatte in den Gesprächen, die ich geführt habe, eher den Eindruck, dass es hier viele Menschen gibt, die sich für ihr Demmin engagieren und viele Projekte und Veranstaltungen auf die Beine stellen, um ihre Heimatstadt zu beleben.
Apropos Veranstaltungen: Am 10. September werden Sie Ihr Buch in Berlin zum ersten Mal öffentlich vorstellen. Gibt es denn auch schon Überlegungen eine Lesung in Demmin durchzuführen?
Ja, die gibt es. Ich stehe dafür mit Karsten Behrens vom Demminer Heimatverein in Kontakt, der mich bei der Organisation unterstützt. Allerdings steht noch kein Datum fest. Ich hoffe aber, dass es noch in diesem Herbst klappt!
Buchinfo: Die Gespenster von Demmin. Hanser Literaturverlage, Berlin 2020. 240 Seiten, 22 Euro. ISBN 978 – 3 – 446 – 26784 – 8.