Zweiter Weltkrieg
Massensuizid in Demmin – Historiker wagt sich an das Rätsel der Gewalt
Demmin / Lesedauer: 3 min

Christine Gerhard
Eine „kleine deutsche Stadt, die dem französischen Leser sicherlich unbekannt ist, die aber Zentrum eines in zweierlei Hinsicht tragischen Ereignisses wurde“ – mit diesen Worten führt der französische Autor und Historiker Prof. Dr. Emmanuel Droit die Leser nach Demmin, den Schauplatz seines kürzlich erschienenen Buches. Bislang noch nicht auf Deutsch zu lesen, bietet „Les suicidés de Demmin“ (Die Selbstmörder von Demmin) interessante Einblicke und neue Perspektiven zu einem Thema, das am Ort des Geschehens bis heute gegenwärtig ist: der Massensuizid in Demmin Ende April und vor allem Anfang Mai 1945 in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs. Schätzungsweise 1000 Menschen nahmen sich aus Verzweiflung das Leben.
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Einwohner, Flüchtlinge, Soldaten kommen zu Wort
Die volkstümlichen Erklärungen nimmt der Autor dabei nicht als gegeben hin und räumt mit Legenden auf, die nicht verifizierbar sind. In der Überzeugung, dass Gewalt ein komplexeres System ist, weigert sich Droit zu glauben, dass der Massensuizid die automatische und unvermeidbare Folge der Nazi-Propaganda war, die Vergewaltigungen durch russische Soldaten das automatische Resultat der Kriegsverbrechen der Deutschen. „Ideen töten nicht und erklären nichts“, stellt Droit klar, „sie sind nichts anderes als die Legitimation der Gewalt“.
Indem er die Gewalteskalation in der Hansestadt zu Ende des Krieges auf einer mikrohistorischen Ebene analysiert, versucht Droit die große Frage dahinter zu klären, die er in Anlehnung an den Historiker Jörg Baberowski als das „Enigma der Gewalt“ bezeichnet: Was kann Menschen zu solch extremen Handlungen treiben?
Auf der Suche nach Antworten begleitet das Buch verschiedene Protagonisten anhand von deren Aufzeichnungen: den jungen Soldaten, der kurz vor Kriegsende eingezogen wurde, den kriegsmüden Ersten Weltkriegs-Veteran, Flüchtlinge, die nach einer langen und belastenden Reise Demmin erreichen, verschiedene Einwohner der Hansestadt. Sie alle tragen ihre persönlichen Geschichten und Erfahrungen mit sich, die in den Ausgang der letzten Kriegstage in Demmin hineinspielen.
Alle Voraussetzungen für eine Hölle
Da ist der Mann, der am Geburtstag seiner Mutter fürchtet, diese nie wiederzusehen; die Frau, die ohne Nachricht von ihrem Ehemann bleibt. Während Droit all ihre Schicksale in den übergeordneten gesellschaftspolitischen, sozialen und vor allem räumlichen Kontext einbettet, behält er die Psyche der Einzelnen im Blick und beschreibt die Stimmungen in den Tagen vor und während der Besatzungen aus der Perspektive der Zeitzeugen: den Lärm sich nähernder Panzer, Detonationen, Kanonenschüsse. Obwohl durchaus fesselnd, bleibt das Buch in Ton und Methode dabei stets sachlich und driftet nicht ins Reißerische ab.
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Zum Schluss spielt eine Reihe von Faktoren zusammen: Hitler, der sein Schicksal mit dem des Volkes verband; ein verlorener Krieg, in dem es aus Sicht vieler Deutscher nur siegen oder sterben gab; eine räumliche Ausweglosigkeit; die Berichte und Erfahrungen der Flüchtlinge; die politischen Eliten, die die Stadt im Stich gelassen hatten; ein Gefühl von Ausgeliefertsein und Schutzlosigkeit; der Zusammenbruch der Infrastruktur; Angst auf beiden Seiten, Verzweiflung, Panik, und schließlich eine unkontrollierbare Gruppendynamik. „Im Grunde genommen vereinten sich alle Voraussetzungen, um Demmin in eine Hölle zu verwandeln, aber dies war nicht mehr als eine Option“, schließt Droit. Letztlich fehlte ein Funke: Waren es die Feierlichkeiten zum1. Mai, verbunden mit Alkoholkonsum, die zur Entfesselung der Gewalt gegen sich und andere führten?