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So leidet eine deutsch-russische Brieffreundschaft unter dem Krieg
Demmin / Lesedauer: 7 min

Frank Wilhelm
Monika Mayer hat lange auf eine Nachricht ihrer russischen Freundin Natascha warten müssen. Wie viele andere Menschen ist die Seniorin aus Demmin an dem Morgen des Beginns des Ukraine-Kriegs vor gut drei Wochen nichts ahnend aufgestanden. Dass der russische Präsident Wladimir Putin seine Armee in den Donbass einmarschieren lässt, damit hätten viele Menschen sicher gerechnet. Aber dass er die gesamte Ukraine, das „Brudervolk“, angreift, das hat auch Monika Mayer geschockt.
Sie hatte viele Fragen an ihre Freundin in Moskau, mit der sie seit über 60 Jahren im Kontakt steht. „Ich kenne Natascha länger als meinen Mann“, sagt sie. Nachdem sie sich zu DDR-Zeiten jahrzehntelang via Brief ausgetauscht hatten, bevorzugen die beiden Damen seit einigen Jahren die schnellen Nachrichten per Whatsapp. Doch tagelang bekam Monika Mayer keine Antworten auf ihre Fragen: Wie geht es Dir? Was sagst Du zu dem Krieg? Hast Du auch solche Angst wie ich?
Freundin Natascha spricht wie Putin von den „Nationalisten”
„Ich habe mehrere Nachrichten geschickt, aber sie hat überhaupt nicht reagiert. Dann habe ich es mit einem Video versucht“, sagt die Demminerin und zeigt auf ihrem Smartphone ein niedliches kleines Mädchen, das mit kräftiger Stimme den Reiz ihrer ukrainischen Heimat besingt. Prompt kam eine Antwort, allerdings nicht die, die Monika Mayer erwartet hatte. „Moni, in der Ukraine verlieren die Nationalisten. Vertraue nicht euren Zeitungen und eurem Fernsehen!“ Monika Mayer war verwundert angesichts der Antwort. Sie hatte die Bilder im Kopf, die wir alle seit drei Wochen täglich sehen: Zerstörte Wohnhäuser, Menschen, die in Kellern Schutz vor den russischen Raketen und Bomben suchen, die Millionen Menschen, die aus ihrer Ukraine Richtung Westen fliehen.
Sie antwortete ihrer Natascha: „Das glaube ich nicht, wir sehen den ganzen Tag, wie viele Menschen ihr Leben verloren haben und zu uns und auch nach Polen fliehen. Sie werden hier aufgenommen und registriert. Wenn ich gesund wäre, hätte ich unsere Ferienwohnung auch für diese armen Menschen, die alles verloren haben, bereitgestellt.“
Dieses Mal ließ Natascha nicht lange auf eine Antwort warten: „Die Nationalisten lassen keine Flüchtlinge nach Russland, aber sie wollen nach Russland. Es tut mir sehr leid, dass du dich täuschen lässt.“ Kurz danach wollte die Freundin sie aus Moskau anrufen, aber Monika drückte das Gespräch weg. Ihr war klar, dass es angesichts der widersprüchlichen Ansichten kaum zu einem vernünftigen Gespräch kommen würde. Ohnehin hat Monika Mayer schon seit Monaten einen schweren Kampf gegen den Bauchspeicheldrüsenkrebs zu bestehen.
Jeder sieht andere Bilder des Krieges in der Ukraine
Monika Mayers Freundin Natascha ist eine gebildete Frau: Sie hat Architektur studiert und bildet seit Jahren Studenten an einer Universität aus. Sie folgt aber offensichtlich der Meinung ihres Präsidenten Wladimir Putin, der politischen Führung Russlands, der Volksvertretung Duma und der staatlichen Medien Russlands. Laut einer aktuellen Umfrage sind es 70 Prozent der Russen, die den Angriff gutheißen und die von einer „Friedensmission“ in der Ukraine sprechen – und nicht von einem Krieg .
Dabei scheinen die Gegenargumente auf der Hand zu liegen: Mehr als drei Millionen Menschen sind bereits aus der Ukraine geflohen. Nur knapp 150.000 suchten Zuflucht in Russland und Belarus. Die Mehrzahl der Ukraine-Flüchtlinge sucht lieber Schutz in Westeuropa. Und es werden von Tag zu Tag mehr.
Staatsfernsehen zeigt keine toten russischen Soldaten
Die Bilder dieses Krieges spielen eine wichtige Rolle bei der Deutung des Konflikts. Die Menschen hierzulande sehen viele Bilder, die die Russen nicht wahrnehmen, weil die Medienvielfalt seit Jahren beschnitten wird. „In unserem Land hatte die Staatspropaganda schon vor dem Krieg in der Ukraine schreckliche Formen angenommen. Jetzt, mit Beginn des Krieges, ist es unmöglich, die Propaganda zu ertragen“, sagte die russische Journalistin Marina Owsjannikowa in einem Spiegel-Interview. Sie hatte jüngst mit ihrem Protest gegen den Krieg während einer Livesendung des Staatsfernsehens für Aufsehen gesorgt. Sie kenne die Bilder internationaler Agenturen mit zerstörten Wohnhäusern, Verletzten und Toten. „Gezeigt haben wir die Bilder im Ersten Kanal nicht. Auch nicht von unseren Toten“, sagte Owsjannikowa.
Während die meisten Menschen auf die Diskrepanz zwischen der Deutung des Krieges mit Unverständnis reagieren, geht Monika Mayer die gefühlte Sprachlosigkeit gegenüber ihrer Moskauer Freundin Natascha tief ins Herz. Das ist verständlich, wenn sie über die Geschichte ihrer ungewöhnlichen Brieffreundschaft erzählt. Monika Mayer besuchte als Schülerin die Demminer Fritz-Reuter-Schule. „Russichunterricht hatten wir bei Ingeborg Saß. Sie war unter uns Schülern sehr beliebt und hieß nur ’Muttchen Saß‘. Sie verstand es ausgezeichnet, mein Interesse für die russische Sprache zu wecken.“ In der 5. Klasse bekam Monika Mayer Nataschas Adresse in Moskau. Etwa alle acht Wochen schrieben sich die Mädchen, so wie es Zehntausende Kinder in der DDR und der Sowjetunion vor 1989 taten. Das Besondere: Der Kontakt zwischen Monika und Natascha wurde auch nach der Schulzeit aufrechterhalten.
Das mag auch damit zusammenhängen, dass Monika Mayer die russische Sprache liebt. Sie war als Schülerin Mitglied im Ensemble der „Jungen Talente“ im Demminer Kulturhaus. „Zu bestimmten Anlässen habe ich auch in russischer Sprache gesungen. Der ’Renner‘ war damals der Moskauwalzer ’Sei gegrüßt Moskau‘. Diesen Walzer durfte ich auch mit dem Blasorchester der Goethe-EOS zur Ostseewoche in Graal Müritz spielen. Man hielt mich sogar für eine russische Sängerin“, erinnert sie sich, die bis heute gerne singt.
Ein Trick von Natascha verhalf zum ersten Treffen 1982
Obwohl sich die DDR und die Sowjetunion in der offiziellen Propaganda als Brudervölker sahen, waren private Treffen schwierig zu organisieren. Monika und Natascha trafen sich das erste Mal 1982 in der DDR, da waren beide längst verheiratet und hatten Kinder. Ein Trick ebnete den Weg zu der Begegnung: Natascha, damals Architekturstudentin, gab an, für einen Artikel in einer Fachzeitschrift über das ostdeutsche Bauwesen recherchieren zu müssen. So konnten sich beide das erste Mal in die Arme nehmen.
1985 folgte ein Besuch in Moskau, wo Natascha mit ihrem Mann und der Tochter in einer Wohnung mit eineinhalb Zimmern lebte. „Wir wurden ebenfalls in ihrem bescheidenen Heim aufgenommen“, sagt sie. Wie schizophren die damals viel gelobte deutsch-sowjetische Freundschaft praktiziert wurde, zeigt die Freundschaftszug-Reise der Mayers 1988. Weil sie sich nicht von der Reisegruppe entfernen durften, haben Monika und ihr Mann Fritz Nataschas Vater in Moskau heimlich getroffen. Die Freundin war damals im Urlaub.
„Monika, ich liebe Dich sehr”
Viele Päckchen und Geschenke gingen in den Jahren auf Reisen. Monika Mayer und ihr Mann sind stolz auf ihren Samowar, den sie bis heute gerne nutzen. Seit der Wende gab es immer wieder gegenseitige Besuche. Zuletzt sahen sich die Familien 2018 in Demmin. Natascha arbeite immer noch für die Uni. „Für uns ist es unvorstellbar, dass die gesetzliche Rente eines Professors nicht ausreicht zum Leben“, sagt Monika Mayer. Wann sich die beiden Freundinnen wiedersehen können, ist auch wegen des aktuellen Krieges derzeit ungewiss.
Auch wenn sie einen völlig unterschiedlichen Blick auf den militärischen Konflikt haben, soll ihre Freundschaft daran nicht zerbrechen. „Ich will Natascha nicht verlieren“, sagt Monika Mayer. Und Natascha schreibt in ihrer jüngsten Whatsapp-Nachricht: „Monika, ich liebe Dich sehr und werde nie aufhören, Dich zu lieben!“