Ungeklärtes Schicksal des Vaters lässt Tutowerin bis heute nicht los
Tutow / Lesedauer: 5 min

Ein kleiner vergilbter blauer Umschlag, gerade mal so groß wie eine Zigarettenschachtel, beschrieben mit nur noch schwer entzifferbarer Tinte und ein umso kräftiger wirkender schwarzer Stempelaufdruck voller kyrillischer Buchstaben: Dieses unscheinbare Stück Papier gehört zum wohl Wertvollsten, was Ingrid Krämer aus der Tutower Dammstraße besitzt. Jedenfalls für sie. Denn im Inneren steckt ein sehr persönlicher Brief. Geschrieben von ihrem Vater Werner Matz, als seine Tochter gerade mal zwei Jahre alt und er an der Front in Weißrussland war. Es sollte sozusagen sein letzter Extra-Gruß an den Nachwuchs sein, denn auch dieser junge Familienvater überlebte den Zweiten Weltkrieg nicht.
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Geboren wurde er am 20. Juni 1915 als Sohn einer Bauernfamilie nahe Stettin in Hammer im einstigen Kreis Randow, heute in der polnischen Woiwodschaft Westpommern. In der nahen Landeshauptstadt lernte er erst den Beruf des Malers und qualifizierte sich dann zum Kunstmaler. Talentiert und gut im Geschäft heiratete Werner Anfang Oktober 1938 die gleichaltrige Anni Blödorn aus dem unweit gelegenen Jasenitz. Beide blieben dort im kurz zuvor neu gebauten großen Haus der Brauteltern wohnen, zumal der Kriegsausbruch unverhofft die Zukunftspläne des Paares torpedierte. Schließlich musste Werner Matz als einer der ersten Zivilisten aus der Region noch im September zum Militärdienst einrücken.
Letzte Nachricht von der Front kam im März 1944
Die erste Zeit in Uniform scheint er relativ gut überstanden zu haben, der Heimaturlauber sorgte sogar für Nachwuchs. Am 20. Juni 1941 kam Töchterchen Ingrid zur Welt. Der Soldat erfuhr von diesem besonderen Geburtstagsgeschenk allerdings erst später an der Ostfront, wo zwei Tage darauf der Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion startete. Die Heftigkeit der Kämpfe forderte auch von Werner Matz Tribut, er erlitt eine so schwere Verwundung, dass ein Auge erblindete.
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Viele Monate verbrachte er in Lazaretten, die meisten nahmen an, dass der Krieg für ihn erledigt wäre. Doch noch vor Weihnachten 1943 musste der Mann wieder los ins Feld. Er landete in der Ukraine, wo sich die Wehrmacht in permanenten Rückzugsgefechten aufrieb. Anfang des Folgejahres kam noch Post von dort, die letzte Nachricht für die Angehörigen stammt vom 11. März 1944 aus einem kleinen Ort westlich Umans und rund 80 Kilometer von der rumänischen Grenze. Sein Kompaniechef habe nur mitteilen können, dass es der Zug ihres Vaters nicht bis zur neuen Verteidigungsstellung geschafft habe und vermutlich alle gefallen seien, weiß Ingrid Krämer aus den Überlieferungen.
Einer von mehr als 1,5 Millionen Vermissten
Ihre Mutter habe diesen Verlust nie verwunden, genauso wenig wie die Vertreibung aus der alten Heimat 1946 durch die Polen. Lange nagte überdies die Ungewissheit an allen, ob Werner vielleicht doch überlebt und in Gefangenschaft geraten sein könnte. Zwar ließ Anni Matz ihren Gatten aus rechtlichen Gründen 1948 für tot erklären, da lebte sie bereits mit Eltern und Tochter in Tutow. Doch sowohl die mutmaßliche Witwe als auch die Mutter, Schwester und eine Schwägerin des Soldaten stellten beziehungsweise erneuerten immer wieder Suchanträge beim DRK.
Jenes führte Werner Matz unter anderem in seinen ab 1957 gedruckten Verschollenen-Bildlisten mit Angaben von mehr als 1,5 Millionen Personen. Aber die Bemühungen, sein Schicksal zu klären, blieben erfolglos, im Oktober 1973 wurde das Verfahren deshalb vorerst abgeschlossen. Die ab den 1990ern folgende Auswertung von Karteien und Datenbanken im Zuge der Öffnung ehemals sowjetischer Archive brachte ebenfalls keine neuen Erkenntnisse. „Wir bedauern sehr, dass wir Sie und ihre Familie auch derzeit nicht von der Ungewissheit über das endgültige Schicksal Ihres Vaters befreien können“, schrieb der DRK-Suchdienst München im Herbst 2017 an die Tutowerin.
Mutter händigte Brief des Vaters erst auf dem Sterbebett aus
Die heute 79-Jährige hat sich zwar längst mit dem Tod des Vaters abgefunden, der werde ja nicht umsonst in der Ukraine inzwischen offiziell als gefallen geführt. Doch ihre Hoffnung hält an, dass die dortigen Suchkommandos und der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge wenigstens eines nahen Tages Klarheit über die letzte Ruhestätte schaffen. Gibt es doch immer wieder solche Erfolgsmeldungen von den ehemaligen Schlachtfeldern.
„So richtig gekannt habe ich ihn ja nicht, ich war ja noch sehr klein und er hat uns nur dreimal besucht“, erzählt Ingrid Krämer. Trotzdem nimmt der so vermisste Papa seit jeher einen großen Platz in ihrem Herzen ein. Noch immer hält die Tutowerin ein großes Foto in besonderen Ehren, das sie alle drei als glückliche Familie zeigt. Viel mehr ist nicht geblieben von dem ambitionierten Kunstmaler außer ein paar Mini-Aufnahmen. Und eben jenes kleine blaue Brieflein, das ihr die Mutter unerklärlicherweise erst im Jahr 2000 auf dem Sterbebett ausgehändigt habe.
Ein Gruß aus Weißrussland
Etwas rätselhaft ist der ziemlich deplatziert wirkende Stempel auf der Vorderseite. Denn die kyrillischen Buchstaben „Тетрадь“ ganz oben stehen für Notizbuch/Heft. Vermutlich als Fertigungsstätte angeführt ist darunter eine бумажной фабрики (Papierfabrik) namens „Герой Труда“ (Held der Arbeit) im Ort Добруш (Dobrusch). Die davor gesetzten Versalien БССР stellen die Abkürzung für „Белорусская Советская Социалистическая Республика“ dar, zu Deutsch „Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik“. Auch das Briefpapier selbst lässt die Herkunft erkennen – ein bunter Druck mit Baum, Fuchs und Krähe zieren den Kopf, im Hintergrund der Landschaft um sie ein flaches Häuschen. Noch darüber vermerkte Werner Matz das Datum (15.8.1942) seiner Post und machte schon in der Titelzeile klar, wer diesen Gruß einst lesen sollte: „Liebes Töchterlein Ingrid!“