Interview

„Wir riskieren unsere Karriere für den ländlichen Raum”

Neubrandenburg / Lesedauer: 12 min

Erik von Malottki und Johannes Arlt sitzen neuerdings für die SPD im Bundestag – und wollen dort dem ländlichen Raum zu mehr Gehör verhelfen. Hier erklären sie, wie das gelingen soll.
Veröffentlicht:22.10.2021, 05:56

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Herr Arlt, Herr von Malottki, Sie sind beide direkt in den Bundestag gewählt worden – beide in Wahlkreisen, die seit vielen Jahren fest in CDU-Hand waren. Ganz ehrlich: Hatten Sie selbst damit gerechnet, dass Ihnen das gelingt?

Johannes Arlt: Wenn ich mir nicht zumindest Chancen darauf ausgerechnet hätte, dass es klappt, hätte ich nicht dafür gekämpft, in diesem Wahlkreis antreten zu dürfen. Ein ausschlaggebender Faktor für mich war, dass Eckhardt Rehberg von der CDU hier nicht mehr angetreten ist. Mit ihm als Kandidat wäre es sicherlich wesentlich schwerer geworden. Insofern: Ja, ich habe immer auf Sieg gespielt. Aber ich hatte erwartet, dass es ein verdammt knappes Rennen wird. Dass es am Ende rund zehn Prozentpunkte Vorsprung waren, hat mich dann doch überrascht.

Erik von Malottki: Bei mir war es ähnlich. Als ich mich zur Kandidatur entschlossen habe, habe ich meiner Frau gesagt: Meine Erfolgswahrscheinlichkeit liegt bei fünf Prozent. Noch am Wahlabend war ich zeitweise wirklich pessimistisch, als am Anfang der Auszählung der AfD-Kandidat klar vor mir lag. Aber andererseits war schon im Wahlkampf von Woche zu Woche immer deutlicher das Momentum der SPD zu spüren, von dem wir natürlich beide profitiert haben. Aber ich denke, wir haben den Wählern eben auch verdeutlicht, dass sie mit uns als direkt gewählte Abgeordnete einen Neuanfang bekommen.

Der Neuanfang gilt ja auch für Sie persönlich. Wie ist das, wenn man auf einmal nach Berlin fährt und Abgeordneter ist?

von Malottki: Zuallererst ist es natürlich unglaublich spannend und man ist auch ein bisschen erschlagen, vom Bundestag, von den vielen Menschen und so weiter. Und dann fragt man sich natürlich: Bin ich hier jetzt nur ein kleines Rädchen im Getriebe oder kann ich auch Veränderungen bewirken? Kann ich meine Wahlversprechen umsetzen?

Das wüssten wir auch gerne von Ihnen! Zumal Sie im Wahlkampf mit 15 Euro Mindestlohn und einer Abkehr von Hartz IV ja mehr versprochen haben als Ihre Partei, die SPD…

von Malottki: Sie nennen zwei Positionen, für die ich stehe und eintrete – auch innerhalb der SPD. Aber es ist natürlich richtig: Die Arbeit für diese Themen geht jetzt natürlich erst so richtig los. Ich bin damit aber keineswegs allein. Die Forderung nach 15 Euro Mindestlohn erhebt ja zum Beispiel auch Johannes Arlt.

Johannes Arlt: Und die SPD-Abgeordneten im Bundestag sind eine sehr junge Truppe. Fast ein Viertel von ihnen ist unter 40 Jahre alt. Fast die Hälfte sitzt zum ersten Mal im Bundestag. Man kann spüren, dass wir Veränderung wollen.

von Malottki: Das hat auch durchaus schon für kleineres Aufsehen gesorgt. Ich habe mich zum Beispiel gleich in der ersten Fraktionssitzung unter dem Tagesordnungspunkt „Verschiedenes“ zu Wort gemeldet – und hatte irgendwie nicht das Gefühl, dass das so vorgesehen war. Aber so ist das eben, wenn die Fraktion sich schlagartig so verjüngt hat…

Ist die erste Diät schon auf Ihrem Konto eingegangen? Was gönnt man sich davon als erstes?

Arlt: Ja, das Geld ist diese Woche gekommen. Bei mir sind es ganz praktische Anschaffungen: Ich habe die letzten knapp 20 Jahre als Soldat gearbeitet, ich besitze weniger zivile Kleidung, als ich für meine neue Tätigkeit brauche. Also stocke ich jetzt in meine Garderobe auf.

von Malottki: Es soll ja Abgeordnete geben, die sich erstmal einen Kugelschreiber für ein paar tausend Euro kaufen. So etwas wird es bei mir nicht geben – und bei Johannes sicher auch nicht. Aber ich gebe zu: Meine Frau und ich haben uns ein zweites Auto für meine Fahrten im Wahlkreis und nach Berlin angeschafft – Baujahr 2002. Meine Frau braucht unser Auto und ich könnte in meinem Wahlkreis viele Orte ohne Auto gar nicht erreichen.

Der neue Bundestag tagt ja erst in der kommenden Woche zum ersten Mal. Dennoch laufen die Koalitionsverhandlungen schon auf Hochtouren. Kann man da als einfacher Abgeordneter überhaupt mitreden?

von Malottki: Ja, allerdings. Es gibt ja eine Reihe von Arbeitsgruppen, in denen die einzelnen Themen ausgehandelt werden. In diesen Arbeitsgruppen wirken viele SPD-Politiker mit, die wir auch schon kennen – beispielsweise Till Backhaus, der MV-Landwirtschaftsminister. Jede dieser Arbeitsgruppen hat eine Begleitgruppe mit Abgeordneten. Und wir werden zusehen, dass alle Begleitgruppen, die für uns thematisch wichtig sind, auch mit Vertretern aus unserer Region besetzt werden.

Im Sondierungspapier, auf das sich SPD, Grüne und FDP verständigt haben, spielten viele Themen, die für ländliche Regionen wie unsere wichtig sind, kaum eine Rolle. Insgesamt kam der ländliche Raum, wieder einmal, sehr kurz.

Arlt: Das sehe ich anders. Das Sondierungspapier enthält zwar nur einen Absatz, in dem es um gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land geht. Aber es gibt eine ganze Reihe von Querschnittsthemen, die für den ländlichen Raum besonders wichtig sind – und die sogar im Fokus des Papiers stehen. Breitband- und Mobilfunkausbau beispielsweise, bessere Bildung, medizinische Versorgungssicherheit und bessere Mobilität. Das sind auch genau die Themen, bei denen Erik und ich uns in den nächsten Wochen einbringen wollen.

Aber droht diesen Themen nicht dasselbe Schicksal wie nach der letzten Wahl? 2017 haben alle Parteien versprochen, sich der gleichwertigen Lebensverhältnisse in Stadt und Land anzunehmen. Nach der Wahl wurde dann eine Kommission gegründet, von der man nie wieder etwas gehört hat…

Arlt: Da muss ich auch widersprechen. Die Kommission hat einen Zwischenbericht vorgelegt, der ein paar vernünftige Erkenntnisse enthält. Es werden viele Themen angesprochen, um die wir uns jetzt kümmern müssen. Aber, und insofern haben Sie schon Recht: Wir müssen jetzt zusehen, dass wir diese Themen auch politisch und in der Region auf die Straße bringen.

von Malottki: Ich würde auch sagen, dass für den ländlichen Raum in den vergangenen vier Jahren viel zu wenig passiert ist. Etwa bei der Gesundheitsversorgung. Was da vor einigen Jahren in Wolgast passiert ist oder jetzt beim Thema Früchenstation in Neubrandenburg passiert, ist nicht gut. Der ländliche Raum ist in den Debatten oft hinten runtergefallen und aus meiner Sicht hat das auch einen Grund: Er war zu großen Teilen in CDU-Hand und durch CDU-Abgeordnete vertreten. Und die haben ihren Job in diesem Punkt nicht gemacht. Und genau das ist jetzt unsere Herausforderung, das jetzt besser zu machen.

Das sind große Worte…

von Malottki: Ja, und dazu stehe ich. Das sind große Fragen, denen wir uns stellen müssen. Aber dafür sind wir ja als direkt gewählte Abgeordnete nun mal gewählt worden. Wir müssen auch bereit sein unsere Karriere im Bundestag dafür zu riskieren, dass wir für den ländlichen Raum aufstehen. Also genau das, was ich mir die letzten vier Jahre von den CDU-Abgeordneten gewünscht habe, was aber leider nicht passiert ist.

Arlt: Und wir legen auch direkt los: . Ich habe in meinem jetzigen Wahlkreis eine Aktion ins Leben gerufen, bei der wir vor Ort sehr konkret in einzelnen Gemeinden versuchen, Funklöcher zu schließen und damit auch das Internet zu verbessern. Das Geld ist im Haushalt dafür ja bereitgestellt. Wir holen die Gemeinden, das Gigabitbüro des Bundes und die Mobilfunk-Anbieter an einen Tisch und besprechen ganz handfest: Was muss jetzt und hier passieren, damit das Funkloch kurzfristig geschlossen wird? Die ersten Termine finden noch vor Weihnachten statt. Jeder Bürgermeister im Wahlkreis ist eingeladen, sich bei mir zu melden und mitzumachen.

Die Bürger stöhnen derzeit vor allem über die hohen Energiepreise. Hier im ländlichen Raum hat man ja ohnehin das Gefühl, besonders unter den Folgen und Kosten der Energiewende leiden zu müssen. Wie soll das jetzt weitergehen?

von Malottki: Es ist richtig, dass hier etwas passieren muss. Johannes und ich versuchen gerade, eine Initiative dafür zu starten, dass die Netzentgelte beim Strompreis endlich bundesweit gerechter geregelt werden. Es kann nicht sein, dass wir im Norden und Osten Deutschlands mehr für die Energiewende zahlen müssen, nur wir beim Ausbau der erneuerbaren Energien weiter sind als der Süden und Westen. Und es kann auch nicht sein, dass dieses Problem seit Jahren bekannt ist, aber nicht behoben wird.

Und dann wäre da noch der Mindestlohn. Es deutet nichts darauf hin, dass Sie mit Ihrer Forderung nach 15 Euro bei der neuen Koalition durchdringen werden. Laufen Sie nicht Gefahr, dass die Wähler von Ihnen enttäuscht sind?

Arlt: Zunächst einmal: Wir haben die 15 Euro ja nicht einfach so in den Raum gestellt. Diese Summe ergibt sich aus der Erkenntnis: Wer derzeit weniger verdient, kann im Alter nicht auf eine auskömmliche Rente hoffen. Und das kann nicht sein, dass wir sehenden Auges in Kauf nehmen, dass ganze Berufsgruppen im Alter arm sein werden. Das ist übrigens ein Argument, das auch viele Unternehmer verstehen, wenn ich mit ihnen über dieses Thema diskutiere.

Die Unternehmer sagen aber auch, dass schon 12 Euro Mindestlohn in vielen Branchen für Verwerfungen sorgen werden. Von 15 Euro noch gar nicht zu reden…

Arlt: Einerseits war das ja auch schon so, als der Mindestlohn eingeführt wurde. Es ist dann aber nicht ganz so gekommen.

Kann man das wirklich vergleichen? Je höher der Mindestlohn wird, desto mehr Berufsgruppen sind betroffen!

Arlt: Fakt ist doch vor allem, dass das ganze Thema Mindestlohn überhaupt nur noch einige Regionen Deutschlands besonders betrifft – nämlich ganz besonders den Osten. In Süddeutschland sind die Löhne und Gehälter insgesamt viel höher, auch weil es eine viel höhere Tarifbindung gibt. Gerade bei uns im Nordosten ein höherer Mindestlohn bei vielen Arbeitnehmern für deutliche Verbesserungen sorgen.

Aber für welchen Preis? Wenn der Mindestlohn steigt, werden doch auch viele Dienstleistungen so teuer, wie sie es im Süden und Westen jetzt schon sind. Das frisst die Lohnsteigerung doch glatt wieder auf!

von Malottki: Sicher, wird es diesen Effekt teilweise geben. Aber ich glaube nicht, dass er die Lohnsteigerung für viele Beschäftigte wieder auffressen wird. Aber was natürlich auch stimmt: Gerade hier im Osten müssen wir den Unternehmen für den Mindestlohn auch etwas zurückgeben – etwa durch eine Senkung von Steuern für kleine und mittlere Unternehmen. Wir machen das zum Beispiel schon bei der Gastronomie, bei der wir die halbierte Mehrwertsteuer dauerhaft aufrechterhalten. Klar ist: Unternehmen, die durch den Mindestlohn dauerhaft in Schieflage geraten würden, müssen wir durch einen Ausgleich unterstützen. Durch den Mindestlohn werden schließlich auch die Steuern steigen, das muss man ganz klar so sagen. Es erhöht also auch den Handlungsspielraum des Staates.

Also geht es letztlich um mehr staatlichen Einfluss auf die Wirtschaft?

von Malottki: Aus meiner Sicht ist das nicht der richtige Blickwinkel. Es geht darum, dass wir unsere Region, die von wenig Kaufkraft und Abwanderung aufgrund des Niedriglohnsektors geprägt ist, dabei unterstützen, gegenüber anderen Regionen aufzuholen. Darum ist der höhere Mindestlohn gerade für uns so wichtig. Aber, wenn man das unbedingt mit „mehr Staat“ zusammenfassen will – dann von mir aus.

Blicken wir zum Schluss noch einmal auf die politische Großwetterlage. Viele Bürger nehmen wahr, dass die Verhältnisse unsicherer geworden sind. Sowohl global als auch, was die hiesige Wirtschaft angeht. Die Inflation, die Lieferengpässe, die Preissteigerungen – wo soll das alles hinführen in den nächsten Jahren? Macht Ihnen das als Politiker nicht auch große Sorgen?

Arlt: Ich mache mir in der Tat große Sorgen – aber vor allem darüber, dass wir uns nicht genug auf die Zukunftsthemen konzentrieren. Mal zwei ganz handfeste Beispiele: Ich war vorige Woche in Teterow, wo seit Jahrzehnten darüber geredet wird, eine Verbindungskurve zur Bahnstrecke nach Rostock zu bauen, damit man schneller und ohne Umsteigen nach Rostock fahren kann. Da geht es um 800 Meter Schiene! Und trotzdem sind 10 Jahre Planungszeit veranschlagt. Das ist völlig inakzeptabel. Oder beim Thema Digitalisierung. Meine bessere Hälfte kommt aus Dänemark. Dort ist die öffentliche Verwaltung komplett digitalisiert, man kann binnen Minuten einen neuen Ausweis beantragen oder sich sogar scheiden lassen. Bei uns ist das alles mit einem wahnsinnigen Papierkrieg verbunden und dauert oft lange. Das sollte nicht sein. Und wenn wir so weitermachen, verschlafen wir die Zukunftsthemen.

von Malottki: Was die größeren Fragen angeht: Wir brauchen jetzt einen ganz klaren Fokus auf die Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Weil die immer mehr abgehängt worden sind in den letzten Jahrzehnten. Und das ist auch die große Aufgabe, die die SPD in der neuen Koalition hat. Denn dass sich Grüne und FDP vor allem um ihre Wählerklientel kümmern werden, brauche ich ja nicht weiter auszuführen…

Vielleicht mal ganz konkret: Was soll hierzulande besser sein, wenn Sie in vier Jahren mutmaßlich zur Wiederwahl antreten?

von Malottki: Drei Dinge. Es soll höhere Löhne geben, es soll besseren Nahverkehr sowie eine bessere Bahnanbindung geben und der Bund muss sich tatkräftiger für die Bildung einsetzen.

Arlt: Bei den ersten beiden Themen gehe ich mit. Als drittes Thema würde ich allerdings die Digitalisierung nennen. Wir brauchen bis dahin zum Beispiel ein flächendeckendes 5G-Netz in der Region, ohne Funklöcher.

von Malottki: Stimmt. Dann sind es sogar vier Dinge, die uns bis 2025 gelingen müssen.