DDR–Geschichte

Als der Eiserne Vorhang aus Salzwasser bestand

Greifswald / Lesedauer: 5 min

Für 82 Menschen, die dem DDR–Regime entkommen wollten, endete die Hoffnung in der Ostsee. Der Greifswalder Politikwissenschaftler Henning Hochstein und seine Kollegen bringen Licht in dieses dunkle Kapitel der DDR–Geschichte.
Veröffentlicht:19.03.2023, 19:27

Von:
Artikel teilen:

Sie arbeiten an der Universität Greifswald an einer Ostsee–Forschung. Worum geht es dabei?

Wir untersuchen Todesfälle auf der Ostsee, bei denen Menschen aus der DDR fliehen wollten und es nicht geschafft haben. Wie Sie sich denken können, traten diese Tragödien erst nach dem Bau der Berliner Mauer häufiger auf. Deshalb erforschen wir den Zeitraum zwischen 1961 und 1989.

Der Fall Teske – die letzte Hinrichtung in der DDR
Todesstrafe

Der Fall Teske – die letzte Hinrichtung in der DDR

qBerlin

Beauftragte: DDR–Geschichte für Jugend interessanter machen
Geschichte

Beauftragte: DDR–Geschichte für Jugend interessanter machen

qPotsdam

In diesem Magazin gibt es die Sternstunden des DDR-Sports
Neuerscheinung

In diesem Magazin gibt es die Sternstunden des DDR-Sports

qNeubrandenburg

Wie viele Todesopfer konnten Sie bisher ermitteln?

Absolut bestätigte Fälle haben wir 136 gefunden. Davon wurden in 33 Fällen keine Leichen geborgen. Die Zahl der Verdachtsfälle, die wir in diesem Jahr in den Mittelpunkt unserer Arbeit stellen, ist deutlich höher. Bei 172 Fällen haben wir Indizien, die auf eine Flucht hindeuten. Diese Fälle hoffen wir, in der weiteren Laufzeit noch zu klären. In 349 Fällen konnten wir einen Fluchthintergrund ausschließen.

Wer bezahlt die Greifswalder Forschung?

Die Bundesregierung hat die Finanzierung unseres Projektes auslaufen lassen und damit wäre es jetzt Ende Februar beendet gewesen. Doch zu unserem Glück ist die Landesregierung eingesprungen und hat uns mit 100000 Euro Förderung ein weiteres Jahr Forschung ermöglicht. Unser Team besteht aus mir und zwei Kolleginnen unter der Leitung von Professor Dr. Hubertus Buchstein.

Wie lange läuft das Projekt bereits?

Tatsächlich schon seit Sommer 2019, damals noch mit anderem Personal. Interessant ist, dass wir wie viele andere Forschungskollegen, eine Corona–Verlängerung zugesagt bekamen. Da wir verschwundene Menschen suchen, müssen wir nämlich in Archive gehen. Und das konnten wir durch die Pandemie–Regeln eine Zeit lang nicht machen. Nach dem Legislaturwechsel wurde uns diese Verlängerung leider fast gänzlich gestrichen, aber das Land Mecklenburg–Vorpommern hat zwischenzeitlich entschieden, das Projekt bis Ende 2023 weiter zu finanzieren, so dass wir unsere Recherchen sinnvoll zu Ende führen können. Dafür sind wir sehr dankbar.

Die DDR ist seit mehr als 30 Jahren Vergangenheit. Warum erforscht man erst jetzt dieses Kapitel?

Weil es ausgesprochen schwierig ist. Es gibt ein ähnliches Projekt schon länger, nämlich an der Freien Universität Berlin, wo die Todesopfer der Berliner Mauer erforscht werden. Der Recherche–Vorteil in der Hauptstadt ist, dass die Leichen von den Grenztruppen an den Landgrenzen gefunden und dokumentiert wurden. Dann gibt es zu den Fällen richtig lange Aktenspuren. Die Opfer, nach denen wir suchen, sind aber zum Großteil in den Weiten der Ostsee verschwunden. Oder die Leichen sind irgendwo an die Küste gespült worden. Nur dort finden sich dann lokale Hinweise, die nicht zentral gesammelt wurden.

Warum sind die Leute über die Ostsee geflüchtet?

Vom Hörensagen ahnten die Leute nach dem Bau der Mauer, wie es an der innerdeutschen Grenze aussieht. Sie waren abgeschreckt und im Gegensatz zu den Barrieren, Waffen und Stacheldrähten wirkte die Ostsee harmloser.

Vielen wurde sicher erst nach zwei Stunden auf der Ostsee klar, dass sie einen Fehler gemacht hatten. 

Die Menschen kamen aus allen Teilen der DDR in den Norden, um es hier zu versuchen. Ich denke, weil die Gefährlichkeit der Ostsee mehr Interpretationsspielraum ließ. Segelsport gab es in der DDR nicht in der Ostsee und weiter zu weit rausschwimmen war ebenfalls untersagt. Ihre älteren Leser wissen das sicher alles, dass die DDR an der Küste einerseits ein Paradies inszenierte, aber andererseits kam jeder Tourist mit dem Grenzschutz in Berührung, ob er es merkte oder nicht.

Image with id: hIjMAUFhxlIA
Henning Hochstein ist Politikwissenschaftler in Greifswald. (Foto: privat) (Foto: )

Die Leute haben sich lieber einem Damoklesschwert ausgesetzt, als dem nahezu sicheren Auffliegen oder sogar Tod an der Landesgrenze. Vielen wurde sicher erst nach zwei Stunden auf der Ostsee klar, dass sie einen Fehler gemacht hatten. Wenn die Unterkühlung und die erste Schwäche einsetzte, kam der Zweifel: Das könnte auch nicht klappen.

Gab es organisierte Fluchtrouten?

Dazu haben wir selbst keinerlei Hinweis gefunden. Rostocker Kollegen haben für den Zeitraum vor den 60er Jahren einmal angedeutet, dass es skandinavische Schlepper gegeben haben soll. Aber bisher wurden dazu auch noch keine wissenschaftlichen Erkenntnisse vorgestellt.

Wer hat die Menschen getötet: die Witterung, die Ostsee oder der Grenzschutz?

Das war hauptsächlich die Ostsee: Unterkühlung und Ertrinken. An den Landesgrenzen hat man oft tragische Geschichten mit Schusswaffengebrauch. Wir haben keinen einzigen Fall bestätigen können, dass Grenzer auf der Ostsee jemanden erschossen haben. Der Grenzschutz an der Küste hat dafür gesorgt, dass die Menschen nicht die nötigen Mittel hatten und sich angemessen ausstatten konnten, um ihre Flucht zu überleben. 

Wie sind die Leute geflohen?

Durch die Lübecker Bucht, knapp 50 Kilometer, haben es viele mit Schwimmen versucht. Da dort der Strand aber gesperrt und gesichert war, war es schon schwierig, überhaupt ins Wasser zu kommen. Weiter östlich griffen sie zu Schwimmhilfen, Luftmatratzen oder Kajaks. Motorisierte Boote waren die absolute Ausnahme. Das Ziel war dann meist Dänemark. Einige versuchten auch ins Fahrwasser der Schiffrouten zu schwimmen. In der Hoffnung, dass sie von den „Westmatrosen“ mitgenommen werden.

Welche Ergebnisse soll die Forschung bringen?

Es ist eine wichtige Aufarbeitung der Vergangenheit und es befasst sich mit politisch motivierten Fluchten über Meere: ein aktuelles Thema. Wir veröffentlichen unsere Erkenntnisse auf einer Webseite, die ich Ihren Lesern sehr ans Herz legen kann, wenn sie am Thema interessiert sind. Unter „www.todesopfer.eiserner–vorhang.de“ finden Sie die Biografien der Opfer, die wir und Kollegen anderer Forschungsprojekte bereits ermittelt haben.