SED-Bezirkszeitung

An der „Freien Erde” war nur der Name frei

Neubrandenburg / Lesedauer: 6 min

Der Nordkurier ist am 1. April mit einer Titelseite der „Freien Erde” erschienen – als Aprilscherz. Hier erklären wir, warum sich diese Zeitung niemand zurückwünscht.
Veröffentlicht:01.04.2022, 05:52

Von:
  • Frank Wilhelm
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Neubrandenburg. Klarer lassen sich die Inhalte, die die SED-Bezirksleitung Neubrandenburg von ihrer Zeitung, der „Freien Erde“, erwartete, kaum definieren: „Wie stellt die Zeitung die Welt des Sozialismus dar? Wie wird die Auseinandersetzung mit dem Imperialismus geführt? Und wie wird die Hauptaufgabe des Fünfjahrplanes gepackt?“, schrieb ein SED-Gutachter im Februar 1972.

Seitenlanger Abdruck von Parteitagsreden

Wer sich die Mühe macht, in alten Ausgaben der SED-Bezirkszeitung „Freie Erde“ zu blättern, wird feststellen, dass sich das Blatt redlich bemühte, diese Anforderungen auch Jahr für Jahr umzusetzen: Die Landwirtschaft war ein zentraler Kern der Berichterstattung, insbesondere natürlich die Erfolge der „Ernteschlachten“. Texte und Fotos in den SED-Zeitungen standen oft im Widerspruch zur Lebenswirklichkeit: Die in großen Lettern vermeldete kontinuierliche Planübererfüllung, die im Gegensatz zum täglichen Mangel stand. Die Vorbildwirkung sozialistischer Funktionäre von Ulbricht bis Honecker, über die das Volk mit politischen Witzen herzog. Oder aber der seitenlange Abdruck von Parteitagsreden, die in der Regel umgehend ins Altpapier gepackt wurde, das bei Sero bekanntlich gutes Geld brachte.

Mehr lesen: Aprilscherz aufgelöst: Warum der Nordkurier nie wieder "Freie Erde" heißen will

Am 15. August 1952 erschien die erste Ausgabe der „Freien Erde“. Im Titelkopf wurde klargemacht, wer das Sagen hatte: „Organ der Bezirksleitung Neubrandenburg der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“. Während ein privatwirtschaftlicher Herausgeber eine Zeitung heute mit marktwirtschaftlichen Absichten betreibt, forderte die SED von Anfang an ideologische Gefolgschaft. „Die DDR hat von der Ideologie gelebt. Die Medien waren der Apparat, der diese Ideologie transportieren sollte und die die SED vor allem direkt beeinflussen konnte“, sagt Günter Schabowski 2011 rückblickend. Der Mann, übrigens 1929 in Anklam geboren, musste es wissen: Schabowski war 1978 bis 1985 Chefredakteur des Neuen Deutschland und saß seit 1981 als SED-Politbüromitglied an den Schalthebeln der Macht.

Chefredakteur war qua Amt Mitglied der Bezirksleitung

Wie der Einfluss der SED funktionierte, hat die Publizistin Christiane Baumann 2013 im Auftrag des Nordkurier für die Vorgängerzeitung „Freie Erde“ akribisch untersucht. Zuallererst sicherte sich die Partei den Einfluss über die Personalauswahl: Die Chefredaktion und weitere Führungsmitglieder in Verlag und Druckerei wurden durch die SED-Bezirksleitung ausgewählt, Redakteure waren in aller Regel SED-Mitglieder.

Ab 1956 übernahm ein Redaktionskollegium die Regie, zu dem neben der Chefredaktion der Parteisekretär des Blattes gehörte. Der Chefredakteur war qua seines Amtes Mitglied der SED-Bezirksleitung. Die Leiter der Lokalredaktionen standen in permanentem Kontakt mit den jeweiligen SED-Kreisleitungen.

Drehbücher für den „kleinsten Furz der Partei- und Staatsführung”

Die außen- und innenpolitische Berichterstattung wurde zu großen Teilen über die einzige ostdeutsche Nachrichtenagentur ADN abgedeckt. Während viele ehemalige FE-Kollegen wenig gesprächsbereit waren, wenn es um den redaktionellen Alltag und Zensur-Mechanismus ging, plauderte der frühere ADN-Reporter Klaus Taubert in seinen „Bekenntnissen eines Opportunisten“ 2008 aus dem Nähkästchen: „Da es für den kleinsten Furz der Partei- und Staatsführung Drehbücher gab, musste man sich dieser mit etwas Fantasie nur bedienen.“

Die DDR sei eine „einzige Inszenierung“ gewesen, die Journalisten hätten „loyal alles“ aufgeschrieben. „Aus den internen Informationen hätten Zeitungen gemacht werden können, nach denen sich die Leute gerissen hätten“, schreibt Taubert.

Dichtes Netz an Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) der Stasi

Apropos intern: Die „Freie Erde“ war von einem dichten Netz an Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) überzogen. 1986 beispielsweise zählte die Bezirksredaktion 54 Journalisten, davon spitzelten 15 für den Geheimdienst, so Baumann. In der Lokalredaktion Neubrandenburg wurden 1985 drei von vier Redakteuren als IM geführt. Damit war die IM-Dichte deutlich höher als in anderen DDR-Betrieben.

Als besonders fleißige Zuträger fungierten der Sportreporter I., 20 Jahre unter dem Decknamen „Werner Hein“, und der Fotograf L., 15 Jahre als „Klaus Träger“. „Hein“ fertigte ausführliche Berichte über den Sportclub Neubrandenburg (SCN), beispielsweise auch über die Dopingpraktiken im Club. Zur Belohnung wurde er 1974 in den offiziellen DDR-Fanblock bei der Fußball-WM in der Bundesrepublik delegiert.

Ein Beispiel für „Trägers“ MfS-Mitarbeit: 1980 lieferte er zwei Filme vom Pressefest bei der Stasi ab, nachdem er sich die Jahre zuvor „erfolgreich herausgeredet“ habe, so Baumann. Die Stasi notierte zu den Fotos: „Besonderer Wert wird auf die fototechnische Sicherstellung von jugendlichen Gruppierungen gelegt.“

DDR-Journalisten saßen zwischen allen Stühlen

Reinhard Sobiech, 1981 bis 1995 bei der „Freien Erde“ beziehungsweise dem Nordkurier als Reporter tätig, war als einer der wenigen FE-Journalisten bereit, die Arbeit als Journalist bei der SED-Zeitung zu reflektieren. 2012 sagte er in einer Diskussionrunde: „Der Journalist immer zwischen den Stühlen. Vor der Wende, Organ der Bezirksleitung der SED. Bis dahin, dass der Agitationssekretär von der Bezirksleitung abends kam, wenn was Wichtiges war – draufgeguckt, gestrichen und ausgetauscht hat. Die einen waren mehr dienstbeflissene Erfüllungsgehilfen, die anderen haben vielleicht ab und zu mit Zähneknirschen gehandelt, mit der Hoffnung, dass sich das irgendwann einmal bessert, wenn mal ein anderer da oben das Ruder übernimmt.“

Sicherlich gab es auch zu Zeiten der „Freie Erde“ viele Kollegen, die jeden Tag aufs Neue mit ihren linientreuen Chefs darum gerungen haben, was man noch schreiben durfte – und was nicht. Und sicherlich gelang es hier und da auch einmal, eigentlich Verbotenes „zwischen den Zeilen“ unterzubringen.

Aufarbeitung lief anfangs nur stockend

Es gehört aber zur Ehrlichkeit, zu konstatieren, dass diese Verquickungen zwischen SED, Stasi und Redaktion nachwirkten: Ähnlich wie im öffentlichen Dienst gab es beim Anfang 1990 als Nachfolge-Zeitung gegründeten Nordkurier keine sofortige Überprüfung auf Stasi-Mitarbeit. Einige frühere IM verließen die Redaktion nach 1990 freiwillig, andere arbeiteten bis in die 2000er-Jahre hinein in der Nordkurier-Redaktion, IM „Fred Hansen“ sogar im Betriebsrat.

Daraus wiederum folgerten inhaltliche Defizite, konstatiert Christiane Baumann: „Ein nicht geringer Teil der damaligen IM in der Redaktion hat Kollegen und Lesern gegenüber nicht reinen Tisch gemacht – wurde wohl auch nie wieder dazu aufgefordert. Dass die Befangenheit derer, die etwas zu verschweigen hatte, sich thematisch und atmosphärisch negativ, das heißt verhindernd und behindern auswirkte, ist nur folgerichtig. Sogenannte Stasi-Themen hatten es nach 1990 jenseits der Skandalmeldungen nicht leicht in der ostdeutschen Regionalpresse.“