Auch ein Mensch
Greifswald / Lesedauer: 8 min

„Es wäre so oder so passiert, das ist mir jetzt klar geworden.” Nikolaus Kramer spricht leise und bedächtig, die Situation ist auch für ihn neu. Anstatt in Anzug und Krawatte am Rednerpult im Schweriner Landtag zu stehen, sitzt er nun im Aufenthaltsraum einer psychiatrischen Einrichtung in Greifswald. Der AfD-Fraktionschef hat sich in den vergangenen Wochen einen Bart wachsen lassen und trägt einen Wollpullover mit hochgeschlagenem Kragen.
Es ist an der Zeit, das ist wohl das Zeichen, sich um sein Inneres zu sorgen, nicht sein Äußeres. Nicht darum, ob er glatt rasiert ist oder einen Anzug trägt. Oder ob es ihm weiterhin gelingt, das Bild des angriffslustigen Oppositionsführers ohne persönliche Schwächen aufrechtzuerhalten, das er in den vergangenen Jahren so gerne in die Öffentlichkeit transportierte.
Bereits der zweite Klinikaufenthalt
„Es wäre so oder so passiert”. Der 43-Jährige wiederholt den Satz, wirkt nachdenklich. „Es” – damit meint er die persönliche Krise, die ihn Anfang des vergangenen Jahres einholte, eine depressive Episode, aus der er alleine einfach nicht mehr herauskam. Er kam nicht mehr zur Ruhe, konnte nicht mehr schlafen, wurde immer verzweifelter. Ausgelöst wurde die Depression durch einen privaten Umstand, auf den er nicht näher eingehen möchte.
Ein Allerweltsproblem, so viel lässt sich sagen, doch für Kramer brach damals eine Welt zusammen, und er unter der Last ihrer Trümmer. Er ließ sich im Sommer 2019 für drei Wochen in eine Klinik einweisen, Anfang Januar trat er einen weiteren, diesmal sechswöchigen Aufenthalt an. „Ich habe gemerkt”, sagt Kramer während er sich durch den Bart streicht, „dass ich den Belastungen damals einfach nicht mehr standhielt”.
Menschlichkeit wird mit Schwäche gleichgesetzt
Worte, die ein Politiker nicht gerne ausspricht, weil er sie eigentlich nicht aussprechen darf. Im politischen Alltagsgeschäft sind lange Arbeitstage, wenig Zeit für die Familie und ein nicht enden wollender öffentlicher Druck die Norm. Zudem ist der Politikbetrieb durchsetzt von Heldenmythen: Ein Politiker muss immer souverän sein, eine Antwort parat haben, sein Gesicht wahren. Im täglichen Kampf um die Wählergunst kann ihm schon ein kleiner Fehler, ein Hauch von Menschlichkeit, als Schwäche ausgelegt werden – besonders bei einer Partei wie der AfD, zu deren Alltagsgeschäft die harte Attacke gehört.
Er hat halt nicht das Format, wird in einem solchen Fall oft gemunkelt, um die Last der sozialen Verantwortung zu schultern. Nicht selten machen sich Politiker dieses archaische Konzept von Stärke zu eigen. Damit erschaffen sie eine Fassade, ein Schein-Ich für die Öffentlichkeit, an der Kritik, Enttäuschungen und Drohungen abprallen wie an einer Betonwand. Wenn es dem Politiker dann nicht gelingt, den Menschen hinter dieser Fassade emotional ausgewogen zu ernähren, verhungert er irgendwann. Es kommt zur Krise.
Kramer bekommt Drohbrief in die Klinik
„Ich kann mich nicht davon freisprechen, dass die Belastung des Jobs als Politiker auch eine Rolle gespielt hat, gerade wenn man ein solch sensibler Mensch ist wie ich”, sagt Kramer rückblickend. Der 43-Jährige stand in den vergangenen Jahren immer wieder in der Kritik. Er ist Burschenschafter und Mitglied des völkisch-nationalen Flügels der AfD, befürwortete Aktionen der rechtsextremen Identitären Bewegung. Im Oktober 2018 verwendete Kramer im Schweriner Landtag wiederholt den rassistischen Begriff „Neger”. All dies hat ihm keine Freunde eingebracht, obwohl er eigentlich nicht zur Provokation neigt.
Die Drohungen gegen ihn und seine Familie nahmen vor allem in den sozialen Medien zu. Zuletzt erreichte ihn ein Foto, das ihn mit blutverschmiertem Gesicht in einem Karnevalskostüm zeigt und mit der Nachricht „Gute Besserung und schöne Weihnachten Nikolaus, Dein Antifa e. V.” versehen war. Der Brief wurde im Dezember an die Einrichtung geschickt, in der er in Behandlung ist, obwohl außer dem engsten Vertrautenkreis niemand von seinem Aufenthalt in der Klinik wusste.
Gerüchte im Schweriner Landtag
Im Januar kamen dann Gerüchte auf: Nikolaus Kramer solle alkohol- und medikamentenabhängig sein und sich zur Entgiftung im Krankenhaus befinden. Das war der Punkt, an dem er entschied, mit seiner Erkrankung an die Öffentlichkeit zu gehen – mit allen Konsequenzen. „Ich habe mir darüber Gedanken gemacht, ob dieser Schritt vielleicht mein Karriereende bedeuten könnte. Doch mir ist wichtiger, dass ich jetzt nachhaltig genese.” Denn die privaten Probleme, die Kramer im vergangenen Sommer einholten, waren nicht die Ursache für seine persönliche Krise – sie waren lediglich ihr Auslöser. Irgendwann wäre es so oder so passiert.
„Ich war ein Getriebener, wollte immer 150 Prozent erreichen, alles perfekt machen”, erzählt Kramer. Durch diesen übersteigerten Anspruch an sich selbst sei es ihm nie gelungen, sich selbst wertzuschätzen und ein zufriedenes Leben zu führen. Auch sein Umfeld musste unter seinem hohem Anspruch leiden: „Ich war lieben Menschen gegenüber oft ungerecht, weil bei mir alles perfekt sein musste”.
Kramer wollte nicht Arzt werden
Während seiner Klinikaufenthalte hatte Kramer die Möglichkeit, die Ursachen für diese Wesensmerkmale aufzuarbeiten. Sie liegen wohl in seiner Familienbiographie. Kramer stammt aus einer Medizinerfamilie, die seit vielen Generationen in Greifswald aktiv ist, sogar Krankenhäuser im Umland gründete. Als Erstgeborener sollte er in die Fußstapfen seines Vaters treten und Arzt werden. „Als ich verkündete, dass ich nie Medizin studieren würde, ist für meine Familie eine Welt zusammengebrochen.”
Kramer ging zur Bundeswehr, anschließend zur Landespolizei Mecklenburg-Vorpommern, wurde dort bis zum Polizeioberkommissar befördert. Doch all das war nicht genug, nicht für seine Familie und letztendlich auch nicht für ihn. „Rückwirkend betrachtet hatte ich immer das Gefühl hatte, nicht zu genügen. Was ich auch machte, es hat einfach nicht gereicht.” Bewusst war ihm dieses Grundgefühl bis zu seinem Klinikaufenthalt nie, es bildete vielmehr die Hintergrundmusik, zu der sein Leben im Takt tanzte. Chronische Unzufriedenheit, Perfektionismus und ein übersteigertes Anspruchsdenken in allen Bereichen des Lebens waren die Folge.
Belastung hatte auch körperliche Folgen
„Politiker sehen sich einer Reihe von Risikofaktoren ausgesetzt, die eine depressive Episode auslösen können”, sagt Eva-Lotta Brakemeier, Professorin für Psychologie an der Universität Greifswald. Neben andauerndem Stress sei dies vor allem Einsamkeit. „Alle wollen gut Freund mit einem sein, aber tiefe, positive Beziehungen gestalten sich oft schwierig”. Zudem bekämen Politiker in der Öffentlichkeit deutlich mehr Kritik als Lob, so dass eine positive Verstärkung ausbliebe. Bei Nikolaus Kramer setzte sich so eine Negativspirale aus Selbstzweifeln und Leistungsdruck in Gang – bis irgendwann der große Knall kam. „Das hinterlässt Spuren”, sagt Kramer heute. „Wenn man sein bisheriges Leben so reflektiert, dann ist das schon sehr schmerzhaft.”
Um weiter zu genesen, wird Kramer noch bis Mitte Februar in der Klinik bleiben. Hier nimmt er an Einzelgesprächen, Gruppentherapien und Sporteinheiten teil, außerdem gehören künstlerisches Gestalten und das Erlernen von Entspannungstechniken zum ganzheitlichen Konzept der Einrichtung. „Vor 15, 20 Jahren hätte ich über all das hier gelacht. Doch heute weiß ich, dass ein Körper nur in einem gesunden Geist funktioniert.” Bei seiner ersten Einweisung habe er einen Ruhepuls von 110 gehabt, musste Unmengen an Kalorien zu sich nehmen, um nicht zu viel Gewicht zu verlieren. Erst durch den therapeutischen Fortschritt habe sich auch sein körperlicher Zustand verbessert.
Die Erfahrungen haben ihn verändert
Nikolaus Kramer lehnt sich in seinem schwarzen Ledersessel zurück. Er lächelt, wirkt zufrieden, obwohl er sich bewusst sein muss, dass er gerade viel über sich preisgegeben hat. Mehr, als es so manch anderer Politiker tun würde. Über das eigene Selbstwertgefühl zu sprechen, das eben nicht immer nur glitzert und glänzt, ist riskant. Nicht jeder hat dafür Verständnis. Kramer weiß das. Trotzdem sagt er: „Sich Hilfe zu holen, wenn man ein Problem nicht alleine lösen kann, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke. Diese Zäsur war notwenig, jetzt kann ich mich mit neuem Elan auf die kommenden Aufgaben konzentrieren.”
Kramer, der im Landtag stets so markig auftrat, wirkt entschlossen, aber milder als zuvor. Wie viel davon im politischen Alltag übrig bleiben wird? Kramer vermag es noch nicht zu sagen. Doch in einem Punkt haben die Erfahrungen ihn verändert: „Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, dass ich nicht nur der bin, den die Leute auf den ersten Blick sehen”, sagt er. „Ich bin nicht nur Politiker. Ich bin auch ein Mensch.”