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Absturz vor 35 Jahren

Flugzeug-Tragödie wirkt bis heute nach

Strasburg / Lesedauer: 11 min

Vor 35 Jahren starben bei einem verunglückten Landeanflug auf Berlin-Schönefeld 20 Schüler aus Schwerin und drei ihrer Begleiter. Ein Strasburger hat die Tragödie bis heute nicht vergessen.
Veröffentlicht:30.12.2021, 11:45

Von:
  • Matthias Baerens
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In jedem Jahr zündet Jan Grabowski am 12. Dezember eine Kerze an. Seit 35 Jahren. Er denkt dann kurz nach 17 Uhr an Simone Arnold aus Schwerin. In Minsk hatte er sie während der Abschlussfahrt seiner Klasse 10A der Strasburger POS III „Wilhelm Pieck“ kennengelernt. Der damals 16-jährige Jan verliebte sich in die Schwerinerin.

In diesem Hotel in Minsk waren sich die Schulklassen begegnet. (Foto: Frank Scheffka/Repro: M. Baerens)

Doch auf dem Rückflug von Minsk nach Berlin-Schönefeld stürzte das Flugzeug mit Simone am 12. Dezember 1986 ab. Das junge Mädchen starb beim Aufprall der Maschine am Stadtrand von Berlin und verbrannte in den Flugzeugtrümmern. Dieses traumatische Ereignis aus einer Jugendzeit begleitet Jan Grabowski bis heute.

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Insgesamt 72 Menschen starben beim Absturz der TU-134A. Beim Landeanflug auf den Flugplatz Berlin-Schönefeld war das Passagierflugzeug der sowjetischen Fluggesellschaft Aeroflot verunglückt. Simone saß zusammen mit ihrer Schulklasse in der Maschine. 20 Schülerinnen und Schüler der Klasse 10A der damaligen Ernst-Schneller-Schule aus Schwerin sowie ihre Klassenlehrerin und zwei Begleiter kehrten tot in ihre Heimatstadt zurück.

Auch das Cockpit wurde komplett zerstört. (Foto: BStU)

Nur sieben Schweriner Jugendliche überlebten den Absturz schwerverletzt. Die Schweriner Klasse befand sich am 12. Dezember 1986 auf dem Rückflug von ihrer Abschlussfahrt nach Minsk.

An jenem Tag flog auch die Schulklasse von Jan Grabowski aus der Sowjetunion zurück. Von Minsk aus war die Klasse zuvor noch mit der Eisenbahn für einige Tage nach Leningrad gefahren. Das Flugzeug aus Leningrad mit den Strasburgern landete planmäßig am frühen Nachmittag in Berlin-Schönefeld. Dort auf dem Flughafen hatte Jan sehr auf ein erstes Wiedersehen mit Simone gehofft.

Denn ihre Maschine aus Minsk sollte an diesem Freitag etwa zur gleichen Zeit ankommen. Auch andere Strasburger hatten sich mit Schweriner Schülern locker verabredet. Doch schlechte Sicht verhinderte die geplante Ankunft der Freunde aus Schwerin, ihre Maschine wurde nach Prag umgeleitet.

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Von dort aus flog die Schweriner Schulklasse nach einem Zwischenstopp nochmals in Richtung Berlin los. Doch dieser Flug erreichte sein Ziel nicht, das Flugzeug stürzte kurz nach 17 Uhr ab, nur zwei Kilometer vor dem Flughafen Berlin-Schönefeld.

Wochen später kam noch Post an: Es waren Neujahrsgrüße von Toten

Zu diesem Zeitpunkt saßen die Strasburger schon in ihrem D-Zug Nr. 914 auf dem Weg von Berlin-Schönefeld nach Pasewalk. Kurz nach 17 Uhr waren sie in der Nähe von Eberswalde. Nach dem Umsteigen in Pasewalk sollte es dann das letzte Stück im Personenzug nach Hause gehen.

In Minsk hatten sich die beiden 10. Klassen aus Schwerin und Strasburg im Hotel „Yubileiny“ kennengelernt. Beide Klassen hatten ihre Reisen beim FDJ-Reisebüro „Jugendtourist“ gebucht. Der Aufenthalt im Hotel gefiel den Jugendlichen, im Restaurant wurden zusammen Rocksongs angestimmt.

Jan Grabowski erinnert sich mit einem Lächeln daran: „Da war eine richtig gute Stimmung im Hotel.“ Strasburger Schüler hatten zudem in der Schweriner Klasse einen ehemaligen Mitschüler wiedererkannt, der jetzt in Schwerin lebte. Adressen wurden getauscht, Brieffreundschaften sollten entstehen, mehrere Schweriner Schüler schickten kurz vor ihrem Abflug in Minsk noch Briefe nach Strasburg ab. Die Schreiben kamen teilweise erst Ende Dezember und Anfang Januar 1987 an, sie wurden zu verstörenden Weihnachts- und Neujahrsgrüßen von Toten.

Die Luftaufnahme zeigt den Unglücksort im Wald bei Bohnsdorf. (Foto: BstU)

Der Flugzeugabsturz hatte seinerzeit die Menschen in der ganzen DDR erschüttert, in Schwerin schmerzt der Verlust bis heute. Das Unglück ist seit gut drei Jahrzehnten das Trauma der jüngeren Stadtgeschichte der heutigen Landeshauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns. Nicht alle betroffenen Familien und Freunde in Schwerin hatten am Abend des 12. Dezember 1986 gegen 19 Uhr die ersten Meldungen im ZDF und später in der Aktuellen Kamera des DDR-Fernsehens zum Flugzeugabsturz mitbekommen.

Oder sie hofften auf ein Wunder. Eine Gruppe wartete deshalb am Schweriner Hauptbahnhof auf den D-Zug 536 aus Berlin. Als keiner der erwarteten Schüler und Betreuer um 21.06 Uhr am Bahnsteig 2 ausstieg, da wurde aus dem Unfassbaren Gewissheit. Weinend sanken verzweifelte Eltern auf dem Schweriner Bahnhof zu Boden.

Als der Schüler-Zug in Strasburg ankam, verstand kein Reisender, was draußen los war

Als der Zug mit den Strasburger Jugendlichen um 19.27 Uhr in Strasburg eintraf, konnten die Jugendlichen und ihre beiden Begleiter überhaupt nicht verstehen, warum der kleine Bahnsteig der Kreisstadt so voll war. Eine Zugreisende erinnert sich: „Das war ein richtiger Menschenauflauf.

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Die Eltern liefen schreiend am einfahrenden Zug entlang und versuchten, ihre Kinder zu erkennen.“ Niemand im Zug verstand, was draußen los war. Dann rollten auf dem Bahnsteig Tränen des Glücks und der Erleichterung. Strasburger Eltern schlossen glücklich ihre Kinder in die Arme. Auch in Strasburg hatten Eltern kurz zuvor Nachrichten vom Absturz einer sowjetischen Passagiermaschine bei Berlin vernommen.

Der Absturz des Aeroflot-Fluges 892 mitten im Advent 1986 ist bis heute das zweitschwerste Flugzeugunglück auf deutschem Boden. Ursache dafür war menschliches Versagen. Das für den Funkverkehr zuständige Mitglied der sowjetischen Besatzung hatte beim Endanflug auf Berlin-Schönefeld eine englischsprachige Ansage der DDR-Flugaufsicht nicht richtig verstanden.

Am 15. Dezember 1986 erschien eine Liste mit den Namen der Todesopfer in allen DDR-Tageszeitungen. (Foto: Repro: Matthias Baerens)

Der Pilot steuerte danach ohne Genehmigung die falsche rechte Landebahn an und korrigierte diesen Fehler zu spät. Neben ihm saß ein ranghoher Aeroflot-Inspekteur ohne Englisch-Kenntnisse, der an diesem Tag die Besatzung überprüfen sollte. Er verharrte ohne einzugreifen bis zum Absturz auf dem Copiloten-Sitz.

Die TU 134-A stürzte kurz vor dem Flughafen Berlin-Schönefeld in ein Waldgebiet. Nur 100  Meter von der Absturzstelle entfernt befindet sich die Autobahn, nur 200 Meter weiter liegt der Ortsteil Berlin-Bohnsdorf. Anwohner und spontan anhaltende Autofahrer waren die ersten Helfer, die sich zum brennenden Flugzeugwrack wagten. Hauptsächlich ihnen ist es zu verdanken, dass zehn Menschen den Absturz überlebten. Es dauerte fast 20 Minuten, bevor Rettungskräfte und die Feuerwehr an der Unfallstelle eintrafen.

Das Jahr 1986 war bereits zuvor ein Katastrophenjahr. Das sowjetische Atomkraftwerk in Tschernobyl geriet Ende April außer Kontrolle, ein Fährunglück im Schwarzen Meer forderte im September mehr als 400 Tote, auch andere Aeroflot-Maschinen stürzten ab. Die Staatssicherheit und die SED waren auch deshalb besorgt über mögliche antisowjetische Reaktionen in der DDR, besonders in Schwerin.

Noch bevor die Schweriner Eltern offiziell per Staatstelegramm vom Tod ihrer Kinder erfuhren, hatten Mitarbeiter der Stasi bereits am nächsten Vormittag, einem Sonnabend, alle Kaderakten der betroffenen Eltern in Schweriner Betrieben durchsucht. Für alle wurden Gefährder-Profile erstellt, mit Einschätzungen, wer sich antisowjetisch äußern könnte.

Anweisungen an die Bezirksverwaltungen der Stasi in Schwerin und Neubrandenburg

Eine der Grundlagen für diesen Einsatz in Schwerin war ein Schreiben von Generalmajor Ewald Pyka aus der Berliner Hauptabteilung IX an die Stasi-Bezirksverwaltung in Schwerin. Es sei „ab sofort“ erforderlich, „alle Möglichkeiten zur Informationsgewinnung über Stimmungen und Reaktionen der Bevölkerung zu dem tragischen Unglücksfall auszuschöpfen.

Das gilt auch für persönliche Wahrnehmungen der Angehörigen, ihre Abteilungen in ihren Wohn- und Freizeitbereichen. Erkenntnisse darüber sind unverzüglich fernschriftlich (…) zu übermitteln.“ Das gleiche Schreiben ging auch an die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit in Neubrandenburg, die wiederum die etwa 30 hauptamtlichen Mitarbeiter in der Stasi-Kreisdienststelle in der Thomas-Müntzer-Straße 2 in Strasburg zum entsprechenden Handeln aufforderte.

Auch das Schulsystem der DDR war in die Überwachungsarbeiten der Staatssicherheit eingebunden, nicht nur beim Flugzeugabsturz 1986. Diese Kooperation wurde „politisch-operatives Zusammenwirken“ (POZW) genannt. „Stimmungen und Meinungen“ wurden regelmäßig in allen DDR-Schulen abgefragt und dann von den Schuldirektoren und SED-Parteileitungen auf dem normalen Dienstweg nach oben weitergemeldet.

Am Flughafen der belarussischen Hauptstadt Minsk parkt eine TU 134A der sowjetischen Fluggesellschaft Aeroflot. Die TU-134 war (Foto: Matthias Baerens)

Über Kreis- und Bezirksschulräte beziehungsweise höhere SED-Gremien waren dann auch die Abteilungen für Inneres informiert und damit auch die Staatssicherheit. In umgekehrter Form konnten auf diesem Weg auch Zielvorgaben der Staatssicherheit bis zu jedem Direktor einer Schule (und damit letztlich zu jedem ihm unterstehenden Pädagogen) gelangen. Der Vorteil für die Stasi dabei war, in Schulen wirksam werden zu können, ohne selbst in Erscheinung treten zu müssen.

In Strasburg war in der Klasse 10A die Trauer über den Tod der gerade neu kennengelernten Schweriner Schüler und Schülerinnen groß. Als die Jugendlichen von einer für den 18. Dezember 1986 geplanten Trauerfeier in Schwerin erfuhren, da wollte sich nicht nur Jan Grabowski auf den Weg dorthin machen. Doch die Reise endete, bevor sie überhaupt begann – im Büro von Schuldirektor Kurt Winkelmann in Strasburg.

Dieser sei, so der ehemalige Schüler, allein schon als Direktor eine „absolute Respektsperson“ gewesen. Ehemalige Lehrerinnen der Oberschule erinnern sich auch an den militärischen Führungsstil des SED-Genossen. Durch ein körperliches Handicap war ihm eine Armeelaufbahn nicht möglich gewesen, die DDR-Volksbildung wurde darum ersatzweise zu seinem Wirkungsfeld.

Noch kurz vor dem Abflug in Minsk hatte Simone einen Brief an Jan nach Strasburg abgeschickt. (Foto: Repro: M. Baerens)

Jan Grabowski wurde damals allein in das Direktorenzimmer bestellt. Direktor Winkelmann war neben der Klassenleiterin selbst als zweiter Begleiter mit den Schülern auf der Klassenfahrt in Minsk gewesen. Jan Grabowski erinnert sich noch an die beklemmende Situation: „Da waren zwei Türen. Die erste hölzerne Tür führte ins Sekretariat. Und dann stand ich vor dieser großen lederbespannten Direktorentür.“ Hinter dieser Tür sagte der Direktor zunächst nur „Hinsetzen!“.

Dann machte ihm Winkelmann unmissverständlich klar, dass eine Reise nach Schwerin nicht erlaubt ist: „Was wollt ihr da? Das bringt nichts! Lasst das, wie es ist!“ An diese Worte erinnert sich der damalige Schüler noch heute. Der Direktor sei dabei gar nicht laut gewesen, eher kumpelhaft. „Aber das war ein Gefühl, als wenn dir als junger Mensch die Flügel gestutzt werden.“ Niemand aus Strasburg fuhr danach nach Schwerin.

Der Grabstein von Simone Arnold auf dem Schweriner Waldfriedhof im Jahr 2016 (Foto: M. Baerens)

Der Tod von Simone und das Verbot, zur Beerdigung nach Schwerin zu fahren, beides hat Jan Grabowski als 16-Jährigen tief getroffen und verletzt. Als Jugendlicher versuchte er, seinen Schmerz und seine Trauer irgendwie allein zu verarbeiten. Er baute ein Modellflugzeug des Typs TU-134A zusammen und malte es schwarz an, fügte ihm Brandspuren zu. Das Trauer-Flugzeug stand danach jahrelang in seinem Zimmer. Er hat es so aufgebaut, als wenn es gerade abgestürzt wäre. Manchmal ist Kunst der einzige Weg, wenn man keine Worte findet.

Die Kerze am 12. Dezember musste diesmal in einem Krankenhaus leuchten

Wenn sich Jan Grabowski heute an die kurze Zeit mit Simone in Minsk erinnert, dann tut es immer noch weh. „Einmal sprachen wir zusammen mit anderen Schülern im Hotel in Minsk darüber, was denn unsere Eltern so beruflich machen.“ Simone lächelte ihn und eine Schweriner Freundin an. Dann sagte sie: „Was mein Vater macht, das sage ich dir lieber nicht.“ Heute weiß er, dass Simones Vater hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter in Schwerin war.

Jan Gabrowski (Foto: privat)

Über das traumatische Ereignis seiner Jugend in der DDR öffentlich reden, das konnte Jan Grabowski bisher nicht. Und auch von seiner ganz besonderen Adventskerze in jedem Jahr am 12. Dezember wusste kaum jemand. In diesem Jahr musste er seine Kerze an einem eher tristen Ort zum Leuchten bringen, in der Kapelle eines Krankenhauses in der Nähe der Nordsee. Aus Brandschutzgründen durfte die Kerze nur elektrisch leuchten. Ein eigener Schicksalsschlag im Jahr 2021 hat sein Leben verändert. Wieder ist es ein Unfall, der sein Leben durchgeschüttelt hat.

Seit einem unglücklichen „Absturz“ von einer Wohnungstreppe sitzt er zurzeit im Rollstuhl. Er hofft sehr auf eine rettende Operation im kommenden Jahr. Das Laufen ist Jan Grabowski gerade nicht möglich. Dafür kommt das Sprechen in Gang, und er findet endlich Worte für das, was er seit 35 Jahren in seinem persönlichen Rucksack mit sich herumschleppt. Vielleicht, weil ihm das nach seiner OP das Weiterlaufen leichter machen könnte.