Flucht nach Deutschland
Wie eine junge Frau aus der Ukraine in Vorpommern neu durchstartet
Greifswald / Lesedauer: 4 min

Matthias Lanin
Taisiia Podolkina lebt seit einem Jahr in Vorpommern und steht in diesen Tagen im bundesweiten Rampenlicht. Die 17-Jährige war nach dem russischen Überfall mit ihrem kleinen Bruder und ihrer Mutter aus der Ukraine geflüchtet, inzwischen besucht sie ein Greifswalder Gymnasium. Als einzige Jugendliche in der Region wurde sie nun für ein Teilhabe-Stipendium ausgewählt.
Hunderte Bewerbungen für Stipendium
180 junge Menschen mit Migrationsbezug haben bundesweit die Förderung der Start-Stiftung bekommen. Beworben hatten sich zehnmal so viele. Seit mehr als 20 Jahren fördert die Tochter der gemeinnützigen Hertie-Stiftung junge Menschen mit diesem Bildungs- und Engagement-Stipendium. Das dreijährige Förderprogramm unterstützt die Heranwachsenden dabei, mit eigenen Projekten und Initiativen die Gesellschaft mitzugestalten und Verantwortung zu übernehmen.
„Regionale Workshops zu Themen wie Selbstwirksamkeit, Seminare zu gesellschaftsrelevanten Themen und erlebnispädagogische Angebote fördern die Kreativität der Jugendlichen, schulen ihre Kommunikationsfähigkeit und ihr kritisches Denken“, sagt Ronald Menzel-Nazarov von der Stiftung. Außerdem würden die ausgewählten Jugendlichen 3000 Euro bekommen, um in ihren Schulen und ihren Städten „mitmachen zu können“. Viele würden sich von dem Geld einen Laptop kaufen, denn die Bildungsangebote der Stiftung sind zum Großteil auch online verfügbar.
Lehrer verblüfft vom Ehrgeiz der Ukrainerin
Taisiia Podolkina hatte sich auf Anraten ihres Integrationslehrers für das Stipendium beworben. Die ukrainische Teenagerin kam im vergangenen Jahr ohne Deutschkenntnisse nach Vorpommern. Als im Mai ihr Kurs begann, verblüffte sie die Lehrer mit ihrem Ehrgeiz. Schon Wochen später konnte sie sich sehr gut verständigen. „Ich habe aber noch Akzent und will besser werden“, sagt sie im Gespräch mit dem Nordkurier.
Taisiia spricht schnell und denkt schnell. Sie ist eine dieser jungen Frauen, die nicht gern herumsitzen. „Ich habe mein Herz auf der Zunge, was nicht immer gut ist“, verrät sie und lächelt herzlich. Aber wie kann die Förderung ihr helfen? „Manchmal fühle ich mich als Außenseiter, durch meine Geschichte, durch den Akzent, sogar durch das Aussehen“, sagt sie. Beim Stipendiatenprogramm gehe es auch um Begegnung. Die sechs Jugendlichen aus Mecklenburg-Vorpommern haben sich bereits einmal in Waren an der Müritz getroffen. „Da hat es sofort gefunkt und wir sind ein Team geworden“, berichtet Taisiia, die sich schon auf die kommenden Treffen freut.
Vater ist im Kriegsgebiet
Ihre Mutter ist Krankenschwester. Der Bruder, zehn Jahre jünger, ist Erstklässler. Der Vater ist Ökonom und immer noch im Kriegsgebiet, da Männer im wehrfähigen Alter nach ukrainischem Recht nicht ausreisen durften. Seit sie vor knapp 18 Monaten nach Deutschland kam, habe sie ihn nicht mehr gesehen. „Und er fehlt mir sehr“, sagt sie in einem Moment, in dem ihre Fröhlichkeit weniger strahlt.
Die junge Ukrainerin hat nach ihrer Flucht in einem Dorf nördlich von Greifswald gewohnt. Dort hatten Deutsche die dreiköpfige Familie aufgenommen und sind so, wie Taisiia es sagt, zu einem „neuen und sehr lieben Teil der Familie geworden.“ Als sie im Mai 22 mit dem Deutschkurs und wenig später auf dem Gymnasium begann, zogen die Geflüchteten in die Kreisstadt Greifswald.
Um das Stipendium zu bekommen, mussten Kandidaten einen empirisch fundierten Bewerbungsprozess durchlaufen: Mit Intelligenz-, Charaktertests und vielen persönlichen Aufsätzen. Am Ende folgte ein Vorstellungsgespräch. „Uns sind die Schulnoten der Kandidaten egal“, merkt Ronald Menzel-Nazarov an. Untersuchungen würden zeigen, dass Menschen mit Einwanderungsgeschichte sich deutlich weniger politisch und zivilgesellschaftlich beteiligen. Zudem hätten sie Nachteile im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt. Dagegen wolle sich die Stiftung mit ihrem Programm wenden.
Große Pläne für die Zukunft
Taisiia will nach dem Abitur Architektur studieren. „Aber nicht einfach irgendwelche Gebäude bauen. Ich könnte mir vorstellen, in die Umweltarchitektur zu gehen. Städte oder Landschaften so gestalten, dass es uns allen und der Umwelt besser geht“, erklärt sie ihren Traum. Ehrenamtlich wolle sie sich für Kinderrechte einsetzen und außerdem dafür sorgen, dass die Geschehnisse in der Ukraine nicht vergessen werden.
Mehr als 17 Millionen Menschen sind seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine aus dem Land geflohen. In Deutschland sind davon bis jetzt eine Million Geflüchtete angekommen. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums sind unter den Erwachsenen etwa 67 Prozent Frauen. Rund 350 000 sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, davon 40 Prozent im Grundschulalter.