Sieben Stufen zur Eskalation

Wissenschaftler warnt: Wölfe töten Menschen

Neubrandenburg / Lesedauer: 5 min

Der kanadische Biologe Valerius Geist beschreibt sieben Stufen der Eskalation. In Mecklenburg-Vorpommern dürfte gerade Stufe fünf erreicht sein.
Veröffentlicht:19.03.2021, 17:13

Von:
  • Susanne Böhm
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Wölfe töten Schafe mitten im Ort, Wölfe umkreisen eine Spaziergängerin im Wald und erkunden Stadtgärten, Wölfe werden von Autos angefahren: Fast täglich bekommen zurzeit Tiere und Menschen im Nordosten Probleme mit Wölfen. Den kanadischen Wolfs-Forscher Valerius Geist wundert das nicht.

Wenn die Menschen sich nicht wehren, werden die Wölfe gewinnen, sagt er. Der inzwischen 83-jährige Biologe war sein ganzes Berufsleben lang davon ausgegangen, dass Wölfe Menschen nicht gefährlich werden können. Als er seinen Altersruhesitz auf Vancouver Island bezog, wurde er jedoch nach eigenen Angaben eines Besseren belehrt. Er musste erleben, wie Wölfe Hunde töteten, seine Nachbarn verfolgten, seine Frau umkreisten und schließlich auch ihn selbst.

Die Tatsache, dass Wölfe bislang harmlos wirkten, liegt nach Auskunft des Wissenschaftlers schlichtweg daran, dass sie ab dem frühen 20. Jahrhundert praktisch ausgerottet und die Menschen in Kanada immer gut bewaffnet waren. Jäger, Waldarbeiter, Landvermesser, Goldsucher, Fallensteller, Lastwagenfahrer und andere Berufsgruppen töteten die Wölfe, bevor sie Schaden anrichten konnten. „Wehe dem Wolf, der sich zeigte“, so Valerius Geist.

+++ Das ist zu tun, wenn einem ein Wolf begegnet +++

Kein Angriff kommt aus heiterem Himmel

Der Wissenschaftler ist überzeugt: Wenn der Mensch sich nicht verteidigt, werden die Wölfe übergriffig. Selbstverständlich erfolgen Wolfsangriffe auf Nutztiere oder sogar Menschen nicht aus heiterem Himmel. Vielmehr gehen solchen Attacken verschiedene Phasen der Gewöhnung an den Menschen voraus, erklärt der Biologe. Er beschreibt eine Skala mit sieben klar erkennbaren Stufen, bevor ein Wolf einen Menschen angreift: „Seven stages of habituation“, sieben Stufen der Gewöhnung oder auch sieben Schritte bis zu Eskalation.

Die ersten Anzeichen sind nach Ansicht des Kanadiers mit russischen Wurzeln Rehe, Hirsche und andere Beutetiere. Wenn diese sich vermehrt in Dörfern oder Städten aufhalten, tun sie das, weil sie vor dem Wolf fliehen. Tiere flüchten aus Angst vor dem Wolf aus dem Wald in die Stadt.  In Greifswald leben aktuell ziemlich viele Wildschweine.

In der zweiten Phase nähern sich Wölfe menschlichen Behausungen vor allem nachts, so die Theorie von Valerius Geist. Das sei unter anderem an unruhig bellenden Hunden oder Wolfsgeheul erkennbar. Sie beobachten die Menschen und lernen schnell, wie weit sie gehen können. In Carwitz in der Mecklenburgischen Seenplatte war Ende vergangenen Jahres Wolfsgeheul zu hören.

Stufe drei beginnt laut Valerius Geist dann, wenn sich die Wölfe auch tagsüber zeigen. Das ist in Mecklenburg-Vorpommern aktuell fast jeden Tag der Fall. Sie beobachten die Menschen bei ihren täglichen Verrichtungen und lernen durch einfaches Zusehen zum Beispiel sogar, wie sie Gartentore öffnen können, so Valerius Geist. Im Templiner Ortsteil Petznick entdeckte Mitte Februar eine Spaziergängerin mitten im Ort einen Wolf, der am helllichten Tage im Garten ihres Nachbarn auftauchte.

In Phase vier sind die Wölfe laut Valerius Geist nicht mehr zu übersehen. Sie greifen Hunde und Nutztiere sogar tagsüber an, selbst wenn diese sich in unmittelbarer Nähe von Häusern befinden. Sie kommen auf Terrassen und in Gärten. Im vergangenen Jahr filmte eine Familie in Vogelsang-Warsin in Vorpommern-Greifswald einen Wolf in ihrem Garten. Menschen sind in diesem Stadium noch nicht Ziel der Angriffe, werden jedoch durch Knurren oder Zähnefletschen bedroht.

Jahrhundertelang unterschätzt

In Stufe fünf steigern sich Angriffe auf Nutztiere: In dieser Phase werden zum Beispiel Reiter umkreist und verfolgt oder größere Nutztiere wie Rinder verletzt. Sie werden mit abgerissenen Ohren, halbierten Schwänzen oder verstümmelten Genitalien vorgefunden. Oder gleich getötet: Allein die Wolfsriss-Statistik in Brandenburg zeigt 2020 eine Verdoppelung der vom Wolf gerissenen Tiere auf 813 Tiere – darunter 84 Rinder und ein Pferd.

Etappe sechs ist erreicht, wenn Wölfe sich scheinbar zahm in unmittelbarer Nähe der Menschen aufhalten. Sie stupsen Spaziergänger mit der Nase an, zupfen an der Kleidung oder kneifen auch mal in den Arm. Durch Schreien und Fuchteln lassen sie sich zwar vertreiben, sie flüchten aber nicht weit. Alles wirkt spielerisch. In Wirklichkeit beginnen sie gerade, den Menschen als Beute zu entdecken und testen, wie er sich bei Angriffen verhält.

Bei Stufe sieben ist nach Ansicht von Valerius Geist der Höhepunkt der Eskalation erreicht. Jetzt haben die Wölfe ihre Scheu vor dem Menschen endgültig verloren. Zwar sind sie noch etwas ungeschickt, gegen einen einzelnen Wolf mag sich ein Mensch noch verteidigen können, aber gegen ein ganzes Rudel dürfte selbst ein bewaffneter Mann keine Chance haben.

Nach Überzeugung von Valerius Geist haben Wissenschaftler und Politiker Wölfe in den vergangenen 100 Jahren verharmlost. Sehr wohl würden Wölfe Menschen töten, solche Vorfälle seien jedoch nicht kommuniziert worden.

Opfer gibt keine Interviews, um Wolf zu schützen

Die 24-jährige Wildtier-Biologin Trisha Wyman sei beispielsweise am 18. April 1996 von einem in Gefangenschaft gehaltenen Wolfsrudel in Ontario getötet worden. Ihr sei der Traumjob angeboten worden, sich um die Wölfe zu kümmern und ihr Verhalten zu erforschen. „Sie überlebte drei Tage“, schreibt Valerius Geist.

Im Juli 2002 sei Scott Lavigne schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht worden. Der Paddler habe im kanadischen British Columbia gezeltet und die Erkundungstouren von Wölfen nicht ernst genommen. Eine alte, ausgemergelte Wölfin mit kaputten Zähnen habe ihn angegriffen. Mit einem Messer habe er neunmal auf sie eingestochen. Das habe sie nicht getötet, aber vertrieben. Interviews habe der 31-Jährige verweigert. Er fürchtete, Wölfe könnten in Verruf geraten.