Literatur

Buchautor plädiert für Lesungen an ungewöhnlichen Orten

Pölchow / Lesedauer: 5 min

Torsten Schulz, Drehbuchautor von „Boxhagener Platz“, ist mit seinem neuen Roman durchs Land gereist. Der Nordkurier traf ihn zu einem Gespräch.
Veröffentlicht:04.11.2022, 16:35
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  • Author ImageSilke Voß
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Es heißt, spätestens seit Corona bleiben die Leute lieber zu Hause. Warum haben Sie sich dennoch auf Lesereise begeben?

Weil ich eingeladen wurde, und weil sich aus einer Lesung manchmal eine nächste ergeben hat. Ich bin auch gerne auf die Möglichkeiten eingestiegen, da „Öl und Bienen“ ein Roman ist, der gerne vorgelesen werden möchte. Und ich habe ihm diesen Dienst erwiesen.

Dabei habe ich mich als Vorleser schulen können und bin dem Text immer wieder auf die Spur gekommen, also fast jedes Mal konnte ich etwas am eigenen Text entdecken, was mir vorher noch nicht aufgefallen war. Dies bei insgesamt über vierzig Lesungen, zehn davon in Mecklenburg-Vorpommern.

Was für ein Publikum war bei den Lesungen?

Von Stuttgart über Berlin bis Rostock, Loitz und Greifswald ein weitgehend homogenes Publikum: vorwiegend Frauen über 50, von denen einige ihre Männer mitbrachten. Als in Magdeburg zwei Frauen um die 20 im Publikum saßen, habe ich fast einen Schreck bekommen.

Eine gewisse Ausnahme war Düsseldorf, wo eine paar junge Veranstalter sogenannte Hinterhoflesungen organisieren; die haben offenbar gute Kontakte ins Studentenmilieu, dem sie selber noch bis vor Kurzem angehörten.

Ü 50, woran mag das liegen?

Zunächst mal: Die Lesung ist eine ältere, in die Jahre gekommene Form der kulturellen Begegnung. Aber auch: Die Aufmerksamkeitsspanne ist bei jüngeren Leuten nicht mehr so groß. Abgesehen davon hat sich Rezeption von Erzählwerken seit Längerem ohnehin recht stark auf Audiovisuelles verlagert, also nach wie vor Fernsehen, wenngleich natürlich mit Zuwachs des Mediatheken-Konsums, und vielleicht noch mehr das Streamen von Filmen und Serien.

Seit Beginn des Ukraine-Krieges ist sicherlich auch eine Politisierung oder Re-Politisierung vieler, auch jüngerer Menschen, zu verzeichnen, und die führt dazu, dass ganz bestimmt mehr Sachbücher gelesen werden im Vergleich zu erzählender Literatur, wenn überhaupt noch gelesen wird.

Und schließlich muss man bedenken, dass die meisten Leute angesichts der Energiekrise ihr Geld beisammenhalten und entsprechend nicht für Bücher ausgeben oder für den Eintritt, den eine Lesung kostet. Die Gesellschaft atomisiert sich, Lesen und Lesungsbesuche werden zu einer kleinen Spezialbeschäftigung.

Ist dieser Trend reversibel, und wie kann man dem entgegenwirken?

Am ehesten, denke oder hoffe ich, indem man Bildung und Kultur verquickt, gerne natürlich unter dem besonderen Gesichtspunkt der Gegenwartsliteratur. Vor Jahren hatte ich, wenn ich am Abend zuvor an einem Literaturort gelesen hatte, am Vormittag gelegentlich noch eine Lesung in einer Schule. Ich war ja ohnehin unterwegs und nahm einen Zug später, kein Problem.

Die Begegnung mit mir als Autor war für die Schüler und Schülerinnen so etwas wie alternativer Deutschunterricht. Das könnte oder müsste man irgendwie zur Regel machen, verpflichtend für Autorinnen und Autoren, die irgendwo einen Preis bekommen oder gut bezahlte Lesungen absolvieren. Verpflichtend aber auch für Schulen, die oftmals kein Interesse haben, wie mir auf Nachfrage von Literaturveranstaltern dann und wann bescheinigt wird.

Sie meinen, der Kulturbetrieb sollte sich mehr öffnen?

Unbedingt. Der Kulturbetrieb und ebenso der Bildungsbetrieb. Raus aus den Blasen, wo und wann es nur geht. Von mir aus auch gern in Betrieben, wo sich die Güter produzierende Bevölkerung aufhält. Lesungen an ungewöhnlichen Orten, das gibt es dann und wann, aber mehr davon und auf diese Weise weg vom Trend des Kunst-Inzests.

So wie jüngst die neue Stätte des Schweriner Theaters direkt im „Problemgebiet“ Dreesch mit einer Inszenierung von Steffi Kühnert vor vielen Jugendlichen eingeweiht wurde?

Ja. So etwas interessiert mich. Ich selbst stamme aus einem Arbeiterhaushalt. warmherzige, lebenskluge, humorvolle Eltern, aber nicht gerade kunstaffin. Da war es für mich ein tolles Ereignis, als ein Schriftsteller, der Vater einer Mitschülerin, eines Tages in die Schule kam. Ich begann schließlich, zu Lesungen zu gehen.

So lernte ich zum Beispiel Wolfgang Kohlhaase kennen, der in einer kleinen Bibliothek in Berlin-Johannisthal aus seinem Erzählungsband las. Ich durfte ihm ein paar Texte zeigen, mit der Hand geschrieben, und bekam ein paar gute Hinweise fürs Weiterschreiben und auch fürs Lesen von Literatur.

Dadurch, dass Sie auf Ihrer Lesereise mit vielen Menschen ins Gespräch gekommen sind, haben Sie viel über Befindlichkeiten mitbekommen. Fast schon ein Stoff für ein neues Buch, oder?

Literatur, die mich interessiert, entsteht aus tieferer Kenntnis von Menschen, wie sie sich bei eher flüchtigen Begegnungen auf Lesereisen natürlich nicht ergeben kann. Aber man erfährt etwas über den Zustand des Landes.

Allein die Zugfahrten, mit Verspätungen, die schon die Regel sind. Oder Zugausfälle am Beginn des Wochenendes, wenn die Bahnhöfe besonders voll sind. Dazu die Wut oder der Galgenhumor der Reisenden. Oder auch die seltsam anmutende Dankbarkeit mancher Leute, wenn man dann endlich doch weiterfahren kann.

Das ist alles irgendwie, pars pro toto, ein Abbild der Gesellschaft. Manchmal habe ich den Slogan aus DDR-Zeiten „Scheiß Osten“ vor mich hin geflucht und das in Frankfurt am Main oder irgendwo anders im Westen. Wie hat man nur, frage ich mich, solange warten können, bis das Zugverkehrssystem dermaßen marode ist?

Würden Sie mit „Öl und Bienen“ auch in die Schulen gehen?

Selbstverständlich. Das eine und andere ist auch schon angedacht. Ich werde zum Beispiel, so wie es aussieht, im kommenden Frühjahr die Gelegenheit haben, mit sogenannten unterprivilegierten Jugendlichen einen Literatur-Workshop zu machen. Dabei soll es allerdings in erster Linie darum gehen, dass die jungen Leute textlich etwas auf die Beine stellen, das ihr Leben auf interessante, originelle Weise zum Ausdruck bringt. Für Weiteres bin ich offen.


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