Historische Doku

Reise in den Bezirk Neubrandenburg, kurz bevor sich alles änderte

Neubrandenburg / Lesedauer: 5 min

1988 lief im DDR-Fernsehen ein Dokumentarfilm über den Bezirk Neubrandenburg. Heute bietet er eine Zeitreise in ein Land kurz vor der Wende, die dort alles auf den Kopf stellte.
Veröffentlicht:06.04.2022, 19:00

Von:
  • Simon Voigt
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Arm, rückständig, geschunden und gequält sei dieses Land gewesen, auf dem der Bezirk Neubrandenburg gegründet wurde. Nicht gerade schmeichelhaft beginnt die Dokumentation über diesen damaligen Bezirk der DDR, der rund um Neubrandenburg bis nach Prenzlau, Röbel, Teterow, Demmin, Anklam und Pasewalk reichte. Doch die Sprecherin in diesem Film von 1988 hat auch ein Kompliment parat, immerhin: „Für mich einer der schönsten Bezirke im Land.” In den 40 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg habe sich vieles zum Guten entwickelt.

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Bezirksporträt Neubrandenburg, Regie: Ulrich Staedtefeld, 30 Minuten, 1988

Neubrandenburg „ist keine Schönheit unter den Städten”

Die DDR war in 14 Bezirke gegliedert und das DEFA-Studio für Dokumentarfilme stellte sie den Zuschauern des DDR-Fernsehens in halbstündigen „Bezirksporträts” vor. Dieser Vorzeigefilm beginnt in der damaligen Bezirkshauptstadt Neubrandenburg, in der „an die 100.000 Menschen” leben, wie die Sprecherin ausführt. Ganz richtig ist das nicht, denn der Höhepunkt der Einwohnerentwicklung wurde 1988 mit knapp über 90.000 erreicht. Jedoch war die Tendenz damals eindeutig: Es ging steil nach oben, die Stadt wuchs und wuchs und wuchs, mit dem enormen Einbruch, den die Wende brachte, konnte damals niemand rechnen. 2021 lag die Einwohnerzahl nach Angaben der Stadt bei rund 64.000.

Die Sprecherin stellt Neubrandenburg als sehr junge Stadt vor, in der die Geburtenzahl besonders hoch sei. „Sie ist keine Schönheit unter den Städten”, heißt es bei einem Kameraschwenk von der Aussichtsplattform des HKB-Turms. Die Stadt wirkt erstaunlich voll an diesem Sommertag, so viel Trubel scheint heute seltener geworden zu sein. Angesichts der vielen Neubauten betont die Sprecherin, dass hier vor wenigen Jahrzehnten noch alles in Trümmern gelegen habe. Im Krieg sei die Innenstadt zu 80 Prozent zerstört worden. Welche Rolle Rotarmisten damals gespielt haben, sagt sie nicht.

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Umweltschonend und billig

Weiter geht es mit den „heutigen” Errungenschaften des Bezirks, besonders in der Industrie: Etwa der VEB Pharma, der damals aufgebaut wurde und heute unter dem Namen MTN Neubrandenburg GmbH ein global aufgestelltes Unternehmen ist. Eines von wenigen Unternehmen aus der Doku, die Wende überleben sollten

Auch die geothermische Bohrstation am Stadtrand von Neubrandenburg wird gezeigt, die unterirdische Wasservorkommen anzapft. „Billige Energie, kaum umweltbelastend”, heißt es in der Doku, die an dieser Stelle auch nach 34 Jahren noch sehr aktuell klingt. Das Thema Umweltschutz spielt häufiger eine Rolle. Das damalige Pilotprojekt der DDR wurde weiter ausgebaut und versorgt noch immer umliegende Wohnungen mit Wärme.

Die Errungenschaften des Sozialismus

Von der Industrie geht es weiter zu den Dingen, die die Region bis heute auszeichnen: Seen, Wälder, Weite und die Landwirtschaft. Die DDR sei eher klein als groß, aber nur noch wenig von Getreideimporten abhängig, heißt es mit stolz: „Gut, wie sich die Genossenschaften im Sozialismus entwickelt haben.”

Beim Thema Landwirtschaft hebt der Film besonders die „modernen Methoden” hervor, die hier inzwischen praktiziert würden. Große Maschinen und Bullenzucht, ein Programm mit dem Ziel der kostengünstigen Fleischerzeugung, hohe Milch- und Fleischleistung, künstlich befruchtete Mutterkühe.

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Wie stellt sich eine Achtjährige die Welt vor?

Bei dem Besuch einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) sitzt auch die achtjährige Michaela aus dem Dorf Groß Gievitz am Teterower See vor der Kamera. Die Sprecherin fragt: Brauchen wir die Liebe? Michaela zögert und sagt ja. Ihre Freundin Nadine habe wieder einen neuen Freund bekommen, „der heißt Ronny, der ist neu hier”. Sie selbst kichert, gibt lieber keinen Kommentar ab.

Wie stellst du dir die Welt vor? Michaela, sie müsste heute 42 Jahre alt sein, antwortet: „Da ist die Sonne, Mond, Sterne, alle Länder, die Blumen, die Menschen, die Tiere.” So richtig ausreden lässt der Film das Mädchen an dieser Stelle leider nicht. Schnitt in die Schule, in der Manuela vorbildlich ihr blaues Pionierhalstuch trägt und ihre Klassenkameraden vorstellt, die Kindergärtnerin, Schauspielerin, Schmied, Maurer oder Lehrer werden wollen. Die Achtjährige selbst will Stewardess oder Krankenschwester werden, oder in der Kinderkrippe arbeiten.

Ochsenköpfe, die hier leben

Die Zukunft scheint gesichert, suggeriert der Film. Doch noch wichtiger scheint, dass auch die Vergangenheit herausragend bewältigt wurde. So wie es die DDR-Hymne versprach.

Denn nur damit lässt sich erklären, dass bei der Rundreise durch den Bezirk vor allem eine Angabe nie fehlen durfte; wie viel nach dem Krieg wieder aufgebaut werden musste – und wurde. Anklam, zu 71 Prozent zerstört, Friedland, eine sehr alte Stadt, in den Nachkriegstagen kaum noch menschliche Behausungen, zu 95 Prozent zerstört. Prenzlau, die Kirche wurde als Stätte der Mahnung erneuert, zu 85 Prozent zerstört. Auferstanden aus Ruinen.

So listet es die Sprecherin auf, die den DDR-Bürgern vor den Fernsehgeräten jedoch auch den Blick für die schönen Seiten der Landschaft nicht verwehren wollte. Schließlich würden hier 700.000 Menschen pro Jahr aus dem In- und Ausland Urlaub machen. An der Müritz und in der Feldberger Seenlandschaft gibt es wieder mehr Eichen- und Buchenwälder, dazu Schutzzonen für Seeadler, schwedische Wildrinder, Wisente, Büffel, Stiere und sowieso, die Ochsenköpfe, die Menschen, die hier leben: „Auf mich wirken vor allem der eigenwillige, wie es heißt, dickschädlige Charakter dieses Bezirks und des hiesigen Menschenschlages. Der selten tiefe Ton in seinen Landschaften und wohl auch als ein Reiz, das schwer erklärlich Duldende im Bild seiner Geschichte, die zum Teil noch wenig erforscht ist.”

So lautet ein Fazit dieses Films und genau so könnte es heute erneut fallen.

Weitersehen:Viele weitere Filme aus der DDR gibt es auf dem YouTube-Kanal DEFA-Filmwelt