Coronavirus

Auf dem letzten Weg konnte er seine Mutter nicht begleiten

Altentreptow / Lesedauer: 4 min

Herta Rochon war mit 106 Jahren eine der ältesten Frauen in MV. Vor wenigen Wochen infizierte sich die Altentreptowerin in einem Pflegeheim mit dem Coronavirus und starb einsam.
Veröffentlicht:04.02.2021, 16:02

Von:
  • Frank Wilhelm
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Was bleibt nach einem 106-jährigen Leben? Erinnerungen, Bilder, Briefe – und tatsächlich auch Rezepte. Der Altentreptower Ernst Rochon zeigt auf den Weihnachtsstollen, den er selbst gebacken hat. Nicht so voll gepudert wie die viel zu süßen Supermarkt-Stollen, und deshalb erst recht lecker. „Das Rezept habe ich von meiner Mutter. Jedes Jahr vor Weihnachten backe ich vier Stück“, sagt der 75-Jährige.

Vor zwei Wochen ist seine Mutter, mit 106 Jahren eine der ältesten Frauen in Mecklenburg-Vorpommern, gestorben. „Am 16. Januar bekam ich den Anruf aus dem Heim, das meine Mutter eingeschlafen ist“, sagt Ernst Rochon, während ihm die Tränen in die Augen treten. Das Mittagessen habe ihr noch geschmeckt, dann gab der Körper auf, geschwächt durch das hohe Alter und eine Corona-Infektion. „Ich konnte mich nicht mehr verabschieden“, sagt Ernst Rochon mit zitternder Stimme.

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Schicksal Tausender Corona-Infizierter

Das Schicksal von Sohn und Mutter steht für das Leid Tausender Menschen, die mit einer Corona-Infektion einsam in einem Heim oder Krankenhaus sterben. Ärzte und Schwestern tun ihr Bestes. Die Tochter oder den Sohn, die Schwester oder den Bruder kann auf dem letzten Weg des Lebens niemand ersetzen.

Vier Jahre lang, bis 2011, hat Ernst Rochon, der damals noch in Neubrandenburg lebte, seine Mutter in der Woche in deren Haus in Altentreptow betreut. Er hat gewaschen, gekocht, eingekauft, den Garten bewirtschaftet. Die Demenz ergriff langsam die Herrschaft über ihr Gehirn. Trotzdem habe sie ihm noch viele Rezepte diktiert, nach denen der Sohn bis heute kocht und bäckt.

„Als sie 98 Jahre wurde, musste ich sie ins Heim geben.“ Zumal es auch seiner Frau zunehmend schlechter ging. Sie litt an Parkinson und Demenz. „Irgendwann sagte mir ein Arzt, dass ich mich entscheiden müsse: Für die Pflege meiner Mutter oder meiner Frau.“ Vier Jahre lang, bis 2016, pflegte er seine Frau, nachdem beide in das Haus der Mutter nach Altentreptow gezogen waren. „Zum Schluss konnte sie nicht mal mehr sprechen. Selbst die Toilette fand sie nicht alleine“, erinnert sich Ernst Rochon. Er gab auch seine Frau in die Obhut des Pflegeheims, wo sie 2017 starb.

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Bis zum 94. hat sie ihren Haushalt selbst erledigt

Solch schwere Schicksalsschläge begleiteten sein Leben: 1976 war sein Vater gestorben, nachdem das Haus der Familie samt dem großen Garten enteignet wurde, um für Neubaublöcke Platz zu machen. Dass der Vater plötzlich für die Nutzung des eigenen Gartens Pacht zahlen sollte, habe er nicht verwunden. Ernst Rochon hat sich trotzdem immer wieder berappelt, auch, als der gelernte Feinmechaniker sich nach der deutschen Einheit und der Pleite seines Betriebs mehrfach um neue Arbeit bemühen musste.

Zu ihrem 100. Geburtstag war seine Mutter Herta noch gut drauf, sie erzählte von ihrem langen Leben, von der Flucht aus Hinterpommern bis nach Rügen 1945. Von der Hoffnung, in die Heimat zurückkehren zu können. In diesem wirren Jahr kam ihr Sohn Ernst zur Welt, in der Frauenklinik in Greifswald. „Zu Fuß ging es nach ein paar Tagen mit einem provisorischen Kinderwagen nach Altentreptow, von wo mein Vater stammt“, sagt Ernst Rochon.

Positiver Test kurz vor Beginn der Impfungen

Ihr langes Leben habe seine Mutter ihrer gesunden Lebensweise zu verdanken: Auf den Tisch kamen fast nur Gemüse und Obst aus dem eigenen Garten. Sie war immer in Bewegung, Zigaretten waren ein Fremdwort, ein Gläschen Wein gönnte sie sich höchst selten. „Sie war schon 94, da hat sie ihren Haushalt noch alleine gemacht“, sagt Rochon. In den letzten Jahren im Heim war seine Mutter allerdings bettlägerig. Auch wenn sie bis zuletzt ein starkes Herz hatte, wollten Körper und Geist nicht mehr so richtig. Aber Schokoladenspeise und im Sommer Himbeeren mit Sahne, „das hat ihr bis zuletzt geschmeckt, hat sie immer gesagt“, erzählt er.

Kurz vor Weihnachten wurde es immer schwieriger mit einem Besuch im Heim. „Es ging dann nur noch mit einem Schnelltest, schließlich gar nicht mehr.“ Kurz bevor Ende Dezember die Impfungen begannen, wurde Herta Rochon positiv auf Corona getestet.

„Es ist traurig, dass ich mich nicht richtig von ihr verabschieden konnte“, sagt ihr Sohn. Tote mit einer Corona-Infektion werden wegen der Ansteckungsgefahr in einen Plastesack gehüllt. Deshalb können die Angehörigen ihre Liebsten auch nach dem Tod nicht noch einmal sehen. Ihre letzte Ruhe hat Herta Rochon am 29. Januar im Grab ihres Mannes gefunden.