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Party-Streit in Neubrandenburg

Belve is Leben, Alter!

Neubrandenburg / Lesedauer: 9 min

Kurze Wege, lange Nächte: Den ganzen Sommer über haben Jugendliche in Neubrandenburg am Tollensesee gefeiert, Anwohner riefen immer wieder die Polizei. Die Jugend fühlt sich von harten Vorwürfen verunglimpft und pocht nun darauf, endlich eine Lösung zu finden.
Veröffentlicht:15.10.2020, 06:00

Von:
  • Simon Voigt
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Für seinen mobilen Lautsprecher hat Philipp* inzwischen einen Rücksack, so lässt sich das 15 Kilo schwere Ungetüm leichter transportieren. Das Ding ist groß, unverwüstlich, überall mit Stickern beklebt und liefert mehr als 120 Dezibel Krach, wenn man es voll aufdreht. „Das ist vergleichbar mit der Lautstärke, die du in der ersten Reihe eines Live-Konzertes erlebst”, heißt es vom Hersteller der „Soundboks” und vermutlich ist genau das das Problem.

Philipp ist 16 Jahre alt, besucht die 11. Klasse an einem Gymnasium in Neubrandenburg. Diesen Sommer im Coronajahr 2020 hat er viele Wochenenden mit Freunden am Belvedere verbracht. Der kleine, weiße Tempel im griechischen Stil ist ein beliebtes Ausflugsziel. Es steht oberhalb des Tollensesees, von dort hat man eine gute Sicht über die Stadt und den See. An einem Radweg kommen tagsüber viele Besucher vorbei. Ein schöner Ort, um sich zu treffen – und zu feiern.

Sound zum Lesen: Das lief am vergangenen Wochenende am Belvedere.

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Hier kommen viele Jugendgruppen zusammen, es ist nicht so ganz klar, wer nun zu wem gehört. Doch Philipp und seine Freunde sind schon ein bisschen stolz darauf, dass sie die größte Gruppe bilden. Dazu gehören rund 80 Jugendliche, alle aus Neubrandenburg und Umgebung. Sie verabreden sich jedes Wochenende über WhatsApp-Gruppen. Meist läuft es so ab: Die Jugendlichen treffen sich am Kaufland, der knapp zwei Kilometer entfernt steht. „Und dort kaufen wir dann immer die Alkoholabteilung leer”, sagt Markus* (17), ein Kumpel von Philipp, und grinst. Mit einem Bollerwagen ziehen sie dann hoch zum Belvedere.

Gefeiert wird hier oben – ähnlich wie am Brodaer Strand, der ein paar hundert Meter entfernt liegt – schon seit Jahren. Das hat in Neubrandenburg Tradition und es ist dort auch einfach schön: Natur, Sonnenuntergänge, Freiheit. Wenn nur nicht die Anwohner wären.

Polizei bei fast jeder Party dabei

Im Prinzip gab es in diesem Jahr bei jeder Party auch Besucher in Uniform, erzählen die beiden Jungs. Anwohner hatten sich wegen Ruhestörung beschwert und die 110 gerufen. Oft fahren die Beamten mit ihrem Einsatzwagen nach oben und reden mit den Jugendlichen. Manche Partybesucher rennen dann weg, wozu es eigentlich keinen Grund geben müsste. Philipp und seine Freunde zeigen sich aber immer kooperativ, betonen sie, und drehen die Lautstärke runter. „Die Kommunikation ist gut möglich”, betont auch eine Sprecherin der Polizeiinspektion Neubrandenburg. Die Polizei hatte nach vermehrten Beschwerden im Sommer zeitweise regelmäßig Streifen gefahren, in der Regel sei da aber nichts vorgefallen.

Werden die Polizisten öfter gerufen und müssen mehrfach zur gleichen Party anrücken, dann kann es schon vorkommen, dass sie die Musikboxen konfiszieren. Der Besitzer kann sich sein Eigentum dann am nächsten Tag auf dem Revier abholen und bekommt meist noch Post vom Ordnungsamt. Manchmal winkt tatsächlich ein Bußgeld.

Zuletzt am vergangenen Freitag wurde die Musikbox eines 15-Jährigen abkassiert. Auch der Lautsprecher von Philipp war schon auf dem Revier. Er erzählt das alles bei einem Treffen am Belvedere mit einem Reporter des Nordkurier. Die nächste Party geht gleich los, doch nach einem Artikel im Nordkurier kochten die Emotionen bei den Jugendlichen plötzlich hoch und sie wollten reden. Sie fühlen sich nicht verstanden.

Jugendliche fühlen sich verunglimpft

Anwohner hatten sich zuvor im städtischen Ausschuss für Umwelt, Ordnung und Sicherheit beklagt, dass die Partys am Tollensesee regelmäßig eskalieren würden. Sie sprachen von Müll, der morgens überall liegen bliebe, Lärm, Autofahrern, die mitten in der Nacht ihre Motoren aufheulen lassen und Feiernden, die ihre „Kokaintüten und Drogenspritzen” liegen lassen würden. Die Anwohner nannten das „Terror”.

Die Jugendlichen fühlen sich verunglimpft und halten diese Kritik für überzogen. „Terrorismus ist nun wirklich etwas anderes”, sagt die große Schwester von Philipp, die auch mitgekommen ist. Sie betont, dass ihre Eltern wüssten, was hier oben passiert. Sie wohnen im Wohngebiet Broda, nicht weit entfernt. „Unsere Eltern leben doch nicht in der Steinzeit, die haben doch auch Instagram”, sagt Markus. Viele der Feiernden würden sich sogar später von ihren Eltern oder größeren Geschwistern mit dem Auto abholen lassen. Von Exzessen könne keine Rede sein, auch nicht von mehreren hundert Besuchern. Die Jugendlichen verlangen zudem Beweise für die Behauptung, hier würden harte Drogen konsumiert.

„Wir wollen das Problem aus der Welt haben”

Anwohner selbst waren leider noch nicht hier oben. Sie rufen in der Regel sofort die Polizei, wenn es ihnen zu laut wird. Dieses Ping-Pong-Spiel lief nun den ganzen Sommer. Philipp und Markus wundern sich, dass es genau jetzt zum Problem wurde. Sie betonen, dass sie gerne einen Kompromiss finden würden. „Wir wollen das Problem aus der Welt haben.”

Doch zu einem klärenden Gespräch kam es noch nie. „Klar haben wir Verständnis dafür, wenn die Leute in der Nachbarschaft schlafen wollen”, sagt Markus. Dann würden sie auch die Lautstärke herunter drehen, wenn es jemandem stört.

Sie pochen aber auch darauf, dass die Nachtruhe erst um 22 Uhr beginnt. Allerdings sagt die Polizei an dieser Stelle etwas anderes. „Ruhestörung ist von keiner Tageszeit abhängig. Wenn sich jemand um 16 Uhr belästigt fühlt, dann muss der Nachbar auch dann die Anlage herunter drehen”, erklärt die Polizeisprecherin. Wichtig sei es, miteinander zu reden, einen Kompromiss zu finden.

Zum Thema Müll sagen die Jugendlichen, dass sie bei jeder Party Müllbeutel dabei hätten. Allerdings gebe es zu wenige Mülleimer in der Umgebung.

„Ballermann des Nordens”

Aus dem Protest heraus hatten andere Feiernde neue Accounts bei Instagram eingerichtet. Einer heißt „Ballermann des Nordens”, auch das ist ein Zitat, das von kritischen Anwohnern über die Partys gesagt wurde. Den Spruch macht sich die Jugend nun zu eigen. Der Account zog innerhalb einer Woche mehr als 1000 Follower an. „Wie so ziemlich jeder andere am Belvedere sind wir zwischen 14 und 18 Jahre alt”, sagen die Betreiber dem Nordkurier. Sie kämen größtenteils aus Neubrandenburg und würden Schulen in der Stadt besuchen.

„Es eskaliert nicht wirklich so krass und vor allem nicht so oft, wie es in dem Artikel geschrieben wurde“, schrieb eine Jugendliche dem Nordkurier über Instagram. Sie geht auf die Evangelische Schule St. Marien. „Ich find', am Belvedere ist immer eine coole Stimmung und die Leute dort sind echt cool drauf!“ Manche ihrer Freunde würde sie nur dort treffen, weil sie sonst keine Zeit dafür fände. Auch ihre Eltern würden es gut finden, dass sich die Jugend zusammen am Strand trifft und nicht nur über ihre Handys Kontakt hält. „Ich hatte mal mit Depression zu kämpfen, und dadurch, dass ich dort so viele nette neue Leute kennengelernt hab, geht es mir schon deutlich besser”, sagt sie. In diesem Artikel stehen noch mehr Meinungen.

„Wer was dagegen hat, Fresse halten”

Über ihr neues Sprachrohr sagen nun viele Jugendliche, was sie bewegt. Einer schreibt über Tellonym: „Belve is leben, Alter! Ich habe immer Stress in der Schule und so, aber mal so richtig krass feiern zu gehen, tut so gut.” Drogen und Spritzen habe er dort noch nie gesehen, auch Alkohol würden nicht alle trinken. „Ja, wir sind laut, aber wir wollen ja auch mal feiern ohne Eltern. Eltern verbieten einem immer alles. Wir wollen auch mal Dampf ablassen.” Bis hier hin klingt dieser anonyme Kommentar echt gut, doch dann endet er mit den Worten: „Ey und alle, die wat dagegen haben, Fresse halten.”

Das ist leider das Problem in diesem Streit: Es gibt viele konstruktive Äußerungen, den Wunsch nach einem Kompromiss, doch manche übertreiben es. Redakteure des Nordkurier mussten sich anhören, Lügen zu verbreiten, nur weil sie Beschwerden der Anwohner zitiert hatten. Mit so viel Wut im Bauch kann kein Gespräch zustande kommen.

„Die beschweren sich wegen dem Lärm, aber was erwarten die?”, heißt es in einem anderen Kommentar. „Das wir monatelang drinne bleiben, nix machen, nix erleben wegen Corona? Ich glaube, da haben die alle falsche Vorstellungen und wo sollen wir denn auch hin? Es ist nirgendwo was.”

Keine Alternativen in der großen Stadt?

Tja, wohin eigentlich? In der Corona-Krise mussten viele Bars und Clubs vorübergehend schließen, das Neubrandenburger Colosseum etwa veranstaltet derzeit nur private Feiern. Außerdem ist der Club nicht jedermanns Geschmack. „Früher hatten wir noch das Zebra oder das Mixtape. Die gibt es aber auch nicht mehr”, sagt die Schwester von Philipp, die sieben Jahre älter ist. Daher bleibe oft nur der Strand oder das Belvedere. Würde die Stadt eine Alternative anbieten, könne auch das eine Lösung sein.

Und so geht das erst einmal weiter, hier oben. An diesem Sonnabend, wird die Soundboks wieder aufgedreht, es läuft elektronische Musik wie aus der Großraumdisse. Allerdings ist an diesem Abend ein Nachbar noch lauter: das AJZ. Dort findet nach langer Zeit wieder ein Konzert statt. Und diesmal rufen die Anwohner deswegen die Polizei. Am Belvedere sei alles friedlich gewesen, als sie dort waren, betont die Polizei später.

*Namen geändert, die Jugendlichen wollten anonym bleiben.

Dieser Beitrag ist im Rahmen unseres Projektes "Medien in Schulen" (MiSch) entstanden. Schüler aus dem Verbreitungsgebiet des Nordkurier bekommen dabei Zugang zu unserem kostenpflichtigen Angebot und weiteren exklusiven Artikeln. Lesen Sie hier mehr dazu.