Bonhoeffer-Klinikum
So läuft’s in der Notaufnahme im größten Krankenhaus der Region
Neubrandenburg / Lesedauer: 6 min

Matthias Lanin
Dünnhäutig und mit kalten Wangen liegt der 61-Jährige auf der Liege im Behandlungszimmer 4. Die Internistin der Neubrandenburger Notaufnahme befragt ihn. Er antwortet freundlich. Doch sein Lächeln ist es, das den Medizinern im Erdgeschoss des Bonhoeffer-Klinikums Sorgen bereitet: Denn der Patient lächelt mit blauen Lippen.
Zu wenig Sauerstoff beim Patienten
Für die diensthabende Ärztin ist die „Lächelfarbe“ ein alarmierendes Symptom: Zyanose, im Volksmund Blausucht, deutet sie an, dass der Patient zu wenig Sauerstoff im Blut hat. Oft stecken Herz-Kreislauf- oder chronische Lungenerkrankungen hinter der Zyanose.
So ist es auch bei diesem Mann. Die schnell gemessene Sauerstoffsättigung beträgt bei ihm 73 Prozent statt wie bei gesunden Menschen 94 bis 98. Während die Internistin den Patienten in der Notaufnahme untersucht, sind in den angrenzenden Behandlungszimmern andere Ärzte mit anderen Patienten befasst.
Bettelei um Fördermittel
Wenn die Medizinerin zum Rechner-Stützpunkt geht, muss sie ihren Kolleginnen und Kollegen ausweichen. Hier und da berühren sich Schultern. Auf den Fluren stehen ein Dutzend Betten an den Wänden, weil es zu wenig Räume gibt. Obwohl die Notaufnahme schon seit Jahren um Fördermittel für einen Ausbau wirbt und bettelt, hat sich nichts geändert.
Die Station gleicht dem Gewimmel in einem Ameisenbau. Ja, hier arbeiten die Mediziner und Pflegekräfte professionell und kennen Lauf- und Arbeitswege ganz genau. Doch das ist auch nötig, da die Arbeitsbelastung enorm ist. „Durch Corona, das wir mittlerweile hinter uns gebracht haben, ist sie sogar noch gestiegen“, sagt die Chefärztin der Notaufnahme, Dr. Regina Tanzer.

40.000 Patientenkontakte zählt die Notaufnahme jährlich, bis zu 150 Patienten kommen täglich. Die Räume im Herz des Krankenhauses bieten gerade mal Platz für die Hälfte, und trotzdem meistern die Angestellten den alltäglichen Stress. „Wir Notfall-Mediziner sind für unsere Gelassenheit und unseren Pragmatismus bekannt“, sagt Tanzer. Doch mittlerweile sei auch sie richtig frustriert durch die Situation und die für sie grenzenlose Ignoranz der Politik.
Handgreiflichkeiten im Wartebereich
Wenn die 57-Jährige einen Wunsch frei hätte? „Dann würde ich mir wünschen, dass sich die Grundhaltung der Bevölkerung uns gegenüber ändert“, sagt sie nach langem Nachdenken. Es gebe, nach ihrem Empfinden, eine gewachsene Anspruchshaltung gegenüber der Notaufnahme.
Verbale Entgleisungen und sogar Handgreiflichkeiten kommen im Wartebereich oder den Fluren vor, weil die Menschen sich als Patienten zurückgesetzt fühlen, weil sie gefühlte Ewigkeiten warten. „Wer beim Warten hinsehen würde, könnte leicht bemerken, dass wir ständig am Rennen sind, dass wir grenzwertig belastet und ebenfalls unzufrieden mit der Situation sind.“
Zeitliche Einteilung nach Triage-System
Fakt sei, dass in der Notaufnahme Menschenleben gerettet werden, und das beinahe täglich. Fakt sei auch, dass jeder ankommende Patient im Normalfall nach durchschnittlich zehn Minuten bereits sein Anliegen vorgetragen hat. Nach dem Manchester Triage System (MTS), einem standardisierten Verfahren zur systematischen Ersteinschätzung, werden die Patienten dann zeitlich eingeteilt.
Bei diesem medizinischen Ordnungssystem gehe es darum, den Schweregrad der Erkrankung oder der Verletzung innerhalb kurzer Zeit zu erkennen und eine Einstufung der Behandlungsdringlichkeit vorzunehmen — nach Farbsystem Rot, Orange, Gelb, Grün und Blau. Das System wurde in den 1990er-Jahren in Großbritannien entwickelt und wird mittlerweile in vielen europäischen Ländern eingesetzt. Demnächst soll für alle deutschen Krankenhäuser ein Ersteinschätzungssystem verpflichtend sein. Die Blausucht des 61-Jährigen ist mit Orange übrigens die zweithöchste Dringlichkeitsstufe.

Einige Patienten müssen abgewiesen werden
Knapp die Hälfte der hier ankommenden Patienten wird stationär aufgenommen. Ein Teil kommt über die hintere Bühne per Rettungswagen an. Ein Teil meldet sich nach Einweisung von niedergelassenen Ärzten und ein Teil kommt auf eigene Faust – und das ist nicht immer gut.
„Die junge Frau mit Schmierblutungen, die hier einen Schwangerschaftstest machen will. Der Mitzwanziger, der sein Sprunggelenk vor vier Tagen verstaucht und bisher keinen Arzt aufgesucht hat. Oder der Workaholic, der es mit seinem Schnupfen tagsüber nicht zum Hausarzt schafft. Jemand mit neu gestochener Tätowierung, die sich ohne Fieber leicht entzündet hat“, nennt die Chefin einige Beispiele, die nicht in die Notaufnahme gehören und in die Farbe Blau eingestuft werden
Die Krankenhausstation sei kein Ersatz für ambulante Praxen mit 24-Stunden-Service. Das Gesicht von Regina Tanzer verfinstert sich: „Sie müssen verstehen, dass wir im schlimmsten Fall weniger Zeit haben, um Leben zu retten, wenn wir uns um solche Bagatellkrankheiten kümmern. Wir sind ein Akut–Versorgungssystem.“
Aus diesem Grund ist das Team auch gezwungen, täglich einige Patienten abzuweisen. „Einen Notfall hat ein Mensch, der mich akut notfallmedizinisch braucht“, fasst Dr. Tanzer zusammen. Das sei eine subjektive und keine Lehrbuchdefinition. Mit einem einfachen Knochenbruch müsse man zum Beispiel nur zwingend in die Notaufnahme, wenn man keinen anderen Arzt habe, der einem hilft. Weil in Mecklenburg sowie in Vorpommern die medizinische Versorgung jedoch immer weiter ausgedünnt sei, steige die Anzahl der Patienten in den Notaufnahmen.
Michael Stang, PflegedienstleiterDiese Missachtung unserer Arbeit hat uns stark getroffen.
Das Pflegepersonal der Notaufnahme ist nach verschiedenen Aufgaben organisiert in ein Team für den liegenden Wartebereich und ein Team für den Akutbereich. „Wir haben einige Stellen offen“, sagt Pflegedienstleiter Michael Stang. Von medizinischen Fachgesellschaften empfohlen sei eine Fachkraft für 1200 Patientenkontakte im Jahr. Eine gesetzliche Festlegung gibt es dazu aber nicht.
"Notaufnahme ist keine Flatrate-Praxis!"
Das Team der Zentralen Notaufnahme in Neubrandenburg muss mit weit weniger als dem empfohlenen Personal auskommen, was die rund um die Uhr rotierenden Pfleger und Pflegerinnen zusätzlich belastet. Die sind sehr enttäuscht darüber, dass der staatliche Corona–Pflegebonus nicht für das Personal der Notaufnahmen ausgezahlt wurde. „Diese Missachtung unserer Arbeit hat uns stark getroffen und ist den Kollegen immer noch anzumerken“, sagt Stang.
Die Überlastung der Notaufnahmen gehe jeden in der Gesellschaft etwas an. „Deshalb sollten alle überlegen, was sie beitragen können, damit wir unsere Arbeit machen können“, sagt Dr. Regina Tanzer. Ihr Appell an die Bevölkerung lautet deshalb, dass sich jeder genau überlegt, welche Ressourcen er in Anspruch nimmt. „Die Notaufnahme ist keine Flatrate-Praxis!“