Die Skandalrede in der Neubrandenburger Stadtvertretung im Wortlaut
Neubrandenburg / Lesedauer: 6 min

Amtsinhaber Silvio Witt (parteilos) sprach von einem Tiefpunkt einer „Kette von mangelndem Respekt” gegenüber dem Amt des Oberbürgermeisters. Am 28. April begründete die 1. Stellvertreterin des Stadtpräsidenten, Renate Klopsch, in Abwesenheit des Einreichers, Stadtpräsident Dieter Stegemann, eine Druckvorlage zur „1. Satzung zur Änderung der Hauptsatzung der Stadt Neubrandenburg”.
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Darüber sollte geregelt werden, dass die Stadtvertretung künftig zwei Beigeordnete für sieben Jahre wählt, statt wie in den vergangenen Jahren lediglich einen. Die umstrittene Rede hat das politische Leben in der Stadt verändert und forderte ihren Tribut.
Stadtpräsident tritt zurück, CDU-Fraktion zerbricht
Stadtpräsident Dieter Stegemann entschuldigte sich, in die Erarbeitung der Vorlage nicht alle Fraktionen einbezogen zu haben, und trat nach anhaltender Kritik zurück.
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In der CDU-Fraktion kochte zwischen Befürwortern und Gegnern von Silvio Witt ein schon lange anhaltender Konflikt hoch, der zum Austritt von sechs der zehn Fraktionsmitglieder führte. Renate Klopsch berief sich im Anschluss darauf, dass sie ihre Begründung auf Basis einer Zuarbeit gemacht habe, deren Autor sowie Absender sie aber nicht namentlich nennen wollte.
Dem Nordkurier wurde in Gänze der Wortlaut der Rede zur Verfügung gestellt:
„Sehr verehrte Ratsfrauen und Ratsherren, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, verehrte Anwesende, verehrte Gäste, diese uns vorliegende Drucksache zur Änderung der Hauptsatzung, eingebracht durch den Stadtpräsidenten, ist formal gesehen eine politische Entscheidung. Sie trägt dem Wunsch der Stadtvertretung Rechnung, einen 2. Beigeordneten zu wählen, wie es die Kommunalverfassung unseres Landes gemäß § 40 Abs. 4 großen kreisangehörigen Städten erlaubt. Beigeordneten kommt im Geflecht kommunaler Selbstverwaltung eine besondere Rolle zu. Sie sind Teil des Verwaltungsapparates und zugleich Teil des politischen Systems. Sie werden durch Stadtvertreterinnen und Stadtvertreter gewählt, für sie wird das Ehrenamt durch das Hauptamt ersetzt. Sie sind Stellvertreter des Oberbürgermeisters und ihnen wird ein eigener Geschäftsbereich zugewiesen. Diesen leiten die Beigeordneten selbstständig und sie haben für diesen in der Stadtvertretung ein uneingeschränktes Rederecht, welches auch von einem Oberbürgermeister oder einer Oberbürgermeisterin nicht beschnitten werden darf.
Werfen wir weiterhin einen Blick auf die aktuellen Herausforderungen, das aktuelle gesellschaftliche Geschehen, wie z. B. die Pandemie und ihre Folgen, die Aufnahme und Versorgung der Kriegsflüchtlinge, die Digitalisierung aller Bereiche, um nur einige Beispiele zu nennen, so wird schnell klar, dass die Beschlussvorlage zur richtigen Zeit kommt, stärkt sie doch die Verwaltung der Stadt, um allen diesen Aufgaben und Herausforderungen jetzt und in Zukunft gewachsen zu sein.
An dieser Stelle könnte zum Thema Hauptsatzung alles gesagt sein. Also, eine selbsterklärende Drucksache – nicht ganz. Wo viele ausgeprägte Charaktere und starke Persönlichkeiten miteinander arbeiten, bleiben Meinungsverschiedenheiten und zuweilen Konflikte naturgemäß nicht aus. Anderseits befördert ein kollegialer Austausch unterschiedlicher Ansichten und Standpunkte eine für unser Gemeinwesen positive Entwicklung – also ein Spannungsbogen.
Wir, die Stadtvertreterinnen und Stadtvertreter der Vier-Tore-Stadt Neubrandenburg, möchten mit dieser Entscheidung unter anderem auch einer aus unserer Sicht unerfreulichen Entwicklung innerhalb der Stadtverwaltung entgegenwirken, die es offensichtlich möglich macht, Verwaltungsmitarbeiterinnen und Verwaltungsmitarbeiter ihrer Aufgabe, ihrer Tätigkeit und ihres Selbstverständnisses von sich und ihrer Funktion zu berauben. Der oft in dieser Stadtvertretung eingeforderte Respekt gilt, nach unserer Wahrnehmung, zuweilen offenbar nur einseitig. Er gilt, nach unserer Wahrnehmung, nicht immer langjährigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sich zunehmend Anfeindungen der verschiedensten Art ausgesetzt fühlen, ohne angemessen darauf reagieren zu können. Arbeitseifer und Engagement können dann Unverständnis und Enttäuschung weichen und schließlich in Resignation und Krankschreibung münden.
Das wollen und können wir, vor dem Wunsch einer guten städtischen Entwicklung unter Einbeziehung aller Potentiale, nicht zulassen. Auch wir Stadtvertreterinnen und Stadtvertreter tragen eine Verantwortung, insbesondere gegenüber jenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die durch unsere Wahl ihre Aufgabe und Stellung in der Verwaltung erhalten haben. Nun haben wir auf den Umgang der Verwaltungsspitze mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stadt nur wenig Einfluss. Den Einfluss, den wir haben, wollen wir jedoch nutzen, um Grenzen persönlicher Profilierung zu Lasten Schwächerer zu setzen.
Gestatten Sie mir hier bitte eine ganz persönliche Anmerkung. Mir gegenüber hat es bislang kein einziger in der Stadtverwaltung Tätiger an Loyalität gegenüber der Verwaltungsspitze fehlen lassen.
Beigeordnete sind dem Oberbürgermeister/der Oberbürgermeisterin, unmittelbar nachgeordnete leitende Bedienstete der Stadtverwaltung. Die Übertragung eines amtsangemessenen Aufgabenbereichs erfolgt durch den Oberbürgermeister mit Zustimmung der Stadtvertretung. Somit sind Beigeordnete auch immer ein Korrektiv zu möglicherweise auftretenden unerwünschten Entwicklungen. Wir haben mit Haushaltsbeschluss 2022 einen neuen Fachbereich in Vorbereitung der Kommunalwahl 2024 installiert, der nunmehr für einen angemessenen Verantwortungsbereich zur Verfügung stünde. Es handelt sich um den Fachbereich Schule, Kultur, Sport und Recht.
Der Bereich Recht ist nach unserem Verständnis äußert ungünstig in so einem kommunikativen und außenwirksamen Gebiet untergebracht und seine Zuordnung ist nach unserer Information der juristischen Ausbildung des Interimsfachbereichsleiters bis zur Wahl eines neuen Beigeordneten geschuldet. Mit einer Herauslösung dieses Bereiches und alter Zuordnung zum Bereich Recht und Vergaben im Fachbereich des Oberbürgermeisters, gäbe es damit einen neuen Fachbereich, der die Zustimmung der Stadtvertretung erhalten würde. Und wenn es uns weiterhin gelänge, einen Beigeordneten mit einer zu diesen Disziplinen (Schule, Kultur, Sport) adäquaten Studienausrichtung und Berufserfahrung zu finden, so könnten wir in einem Beschluss mehrere Ziele vereinbaren und erreichen.
Meine Damen und Herren, mit einem Beschluss zur 1. Satzungsänderung der Hauptsatzung der Stadt Neubrandenburg schaffen wir die Voraussetzungen, um einen 2. Beschluss zur Wahl eines 2. Beigeordneten fassen zu können. So weit, so gut. Es ist uns aber äußert wichtig, dass unsere Beschlüsse auch mit ihren Botschaften verstanden werden.
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, wir wollen mit dieser Drucksache Ihnen den Rücken stärken bei der Bewältigung der vor unserer Vier-Tore-Stadt stehenden und künftig nicht geringer werdenden Herausforderungen. Und wir bitten Sie, beharrlich und geduldig für eine Atmosphäre des Miteinanders zu sorgen, in der jede und jeder sich wohlfühlt und seine Aufgaben mit Freude erfüllen kann. Damit zeigen Sie uns allen, jenen Respekt, den Sie natürlich für sich selbst in Anspruch nehmen und der Ihnen auch gebührt. Herr Oberbürgermeister, verstehen Sie bitte unseren Beschluss als solchen wie er gemeint ist. Meine Damen und Herren, verehrte Ratsfrauen und Ratsherren, ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.”