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Finch, Marteria, Silbermond – Die Wendekinder vom Datzeberg

Neubrandenburg / Lesedauer: 5 min

Die Rapper Marteria und Finch haben mit Silbermond-Sängerin Stefanie Kloß einen Song über „Wendekinder” aufgenommen. Der Star im Video sind ganz klar die Plattenbauten von Neubrandenburg.
Veröffentlicht:11.11.2022, 16:00

Von:
  • Simon Voigt
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Jetzt macht Marteria also auch Schlager. Der Rostocker Rapper (geboren 1982) hat zusammen mit Finch (1990), dem „Ostdeutschen David Hasselhoff” aus Frankfurt an der Oder und der Silbermond-Sängerin Stefanie Kloß (1984) aus Bautzen einen Song über ihre Generation aufgenommen. „Wendekind” richtet sich an all die Menschen, die vielleicht noch in der DDR geboren sind, aber im wiedervereinigten Deutschland aufwuchsen. An diesem Freitag, in der Woche zum Tag des Mauerfalls, haben sie das Lied veröffentlicht und der heimliche Star im zugehörigen Video ist die Stadt Neubrandenburg.

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Denn die meisten Szenen wurden hier gedreht und eigentlich hätte es auch keinen besseren Ort geben können. Wo sonst findet man so schöne Plattenbauten? Und vor allem so viele! Eine Drohne schwirrt über die Wohnblöcke auf dem Datzeberg in herrlichster Herbsttristesse, mittendrin auf einem Bolzplatz sitzt Marteria und rappt Zeilen wie: „Ja wir sind Wendekinder, geborene Krieger, ohne Glauben an Gott, glauben nur an Tequila.” Perspektivlosigkeit, Wut, Frust, Drogen und "alle ziehen hier weg" sind die Themen in diesem Lied. Dazu Finch: „Keine Wärme vom Vater, nur vom Sternburg nen Kater.”

„Die vom letzten Platz, die man vergessen hat, abgestürzte Lemminge, doch auferstanden aus Ruinen”, knüpft daran Stefanie Kloß im Refrain an und wird, in der Abendsonne über den denkmalgeschützen Wohnblöcken an der Neustrelitzer Straße, sogleich optimistischer: „Wir leben hier im Paradies, sehen hier was, was du nicht siehst.” Diese Botschaft will das Lied vermitteln: Wir gehören alle zusammen und wissen unsere Heimat zu schätzen. Dazu klingt ein Beat, der ein bisschen an „Rhythm Is A Dancer” erinnert und genau die richtige Dosis 90er-Vibes in den Song bringt. Gerade im Refrain wird das alles ganz schön schnulzig, fast schon zu sehr Schlager, aber voll okay! Auch wenn das Lied sicher mehr Anklang wegen des Textes und des Titels finden wird, als wegen der austauschbaren Melodie.

Einen ähnlichen Heimat-Song hatten Silbermond schon 2016 mit „B96” gebracht. In dem Lied geht es um die bekannte Bundesstraße quer durch den Osten und das Heimkommen nach langer Zeit in der Ferne. Unter den Lesern des Heimweh-Newsletters wurde dieses Lied am häufigsten auf die Liste der Songs mit ganz viel Heimweh gewählt.

2022 – Das Jahr der Erinnerung

Jugend in Ostdeutschland, Realität im 34. Jahr nach dem Mauerfall – die Aufarbeitung dieser Themen hat es 2022 schon in einige Songs geschafft. So prügelten bereits im März Marteria und der Tote Hosen-Sänger Campino mit „Scheiß Ossi” und „Scheiß Wessiaufeinander ein (und lagen sich dann doch knutschend in den Armen). „Der Osten erobert die Welt”, erklärt darin Marteria und erinnert an die Erfolge von Rammstein, die Prinzen, Tokio Hotel oder Kraftklub. Die letzten beiden haben dann im Juli ihren Song „Fahr mit mir (4x4)" herausgebracht, in dem sie im Lada Niva über ostdeutsche Landschaften cruisen: „Spargelfelder zieh'n vorüber, wenn ich geh, komm ich nicht wieder.”

Kraftklub aus Chemnitz wiederum erklären uns auf ihrem neuen Album „Kargo”: „Wittenberg ist nicht Paris”. In dem Song geht es ebenfalls um die vielen großen und kleinen Unterschiede, mit denen Jugendliche im Osten im Vergleich zu ihren Altersgenossen im Westen aufwachsen: „Es ist nicht alles schlecht, aber viel mehr als woanders”. Es geht ums Fortziehen, ums Integrieren in einer neuen westdeutschen Großstadtwelt und um manche Türen, die trotzdem immer zu bleiben werden.

Die Aufarbeitung beginnt

In eine ähnliche Kerbe hatte Anfang des Jahres auch schon Hendrik Bolz geschlagen, der als Rapper „Testo” zum Duo „Zugezogen Maskulin” gehört. In seinem Buch „Nullerjahre” geht es um das „Aufwachsen in blühenden Landschaften”, was für ihn konkret bedeutete: das Plattenbauviertel Knieper-West in Stralsund. Im Buch beschreibt er, wie einfach alle Menschen in seiner Umgebung mit den Folgen der Wende zu kämpfen hatten, besonders mit der Massenarbeitslosigkeit, und er als Jugendlicher stets darum bemüht war, härter, krasser, druffer als alle anderen zu ein. Erst Jahre später und nach erfolgreicher „Flucht” nach Westberlin war er in der Lage, diese Periode aufzuarbeiten.

Seine Umgebung habe ihn dazu gemacht, dennoch übernimmt er die volle Verantwortung für sein Verhalten, schreibt Bolz am Ende seines Buches. Sie waren „geborene Krieger”, wie es nun auch Marteria auf dem Datzeberg rappt. 2022 scheint ein Jahr der Erinnerung und Aufarbeitung für eine ganze Generation zu sein.

Ossirapper Finch hatte bereits im Sommer vor 5000 Leuten auf dem Neubrandenburger Marktplatz gespielt, im Publikum wedelten erstaunlich viele DDR-Fahnen. Leider zu oberflächlich, aber so funktioniert Ostalgie. Am 26. November wird Finch wieder in die Stadt kommen, für eine Club-Show ins Colosseum. Vielleicht sind dann ja wieder einige Wendekinder im Publikum? Oder gleich auf der Bühne?