Obdachloser vor Gericht

Gang hinter Gitter als einzige Chance zum Überleben?

Neubrandenburg / Lesedauer: 4 min

Ein Mann bekommt seit Jahrzehnten sein Leben nicht in den Griff. Regelmäßig sind nur noch Schnaps und Begegnungen mit der Justiz. Aber was soll die mit ihm noch machen?
Veröffentlicht:19.03.2023, 14:42

Von:
Artikel teilen:

Der Mittfünfziger stakst mit unsicheren Schritten in den Gerichtssaal, seinen Begleiter aus dem Neubrandenburger Klinikum immer neben sich. Das Gesicht sieht blau und rot und gelb aus, die Schwellungen bilden sich gerade langsam zurück, die Augen sind noch blutunterlaufen. Der Mann sei, so berichtet seufzend sein Rechtsanwalt Wolfgang Bartsch, in der vergangenen Woche überfallen und zusammengeschlagen worden. Warum, weiß kein Mensch. Zu holen ist bei dem schon lange nichts mehr. Aber Männer wie er werden eben leicht zum Opfer.

Im Klinikum hat man den dünnen Mann wieder zusammengeflickt, im Krankenhaus geblieben ist er trotzdem. Nur auf eine andere Station gewechselt, der Patient liegt jetzt im „Zentrum für Seelische Gesundheit“, so nennt sich die Klinik für Psychiatrie in dem großen Haus in der Oststadt. Hier hat der Mittfünfziger Einzug gehalten auf der Station H 21 zur Entgiftung — der Mann zählt als schwerer Alkoholiker.

Klappt das dieses Mal wieder nicht, muss man wohl schwarzsehen. Selbst sein Anwalt Bartsch sieht dann die Zukunft seines Mandanten düster. Denn der trinkt fast seit Menschengedenken, seit seinem jedenfalls. Vor der Wende hat er auf dem Acker und im Stall gearbeitet, als die LPGen im Osten liquidiert wurden, rutschte der Mann in die Arbeitslosigkeit und kam bis heute nicht raus. 19 Vorstrafen zieren seine Biografie — nie etwas Ernstes, eigentlich immer nur Pillepalle.

Haftstrafe für wiederholten Schnapsdiebstahl

Regelmäßig erwischten ihn Ladendetektive, wenn er Schnaps klauen wollte. Wie im vergangenen Jahr im Juni. In dem einen Supermarkt steckte eine Flasche Bacardi–Rum in seinem Hosenbund, vier Tage später in einer anderen Kaufhalle versuchte er, eine Flasche Korn zu stehlen und nur wiederum eine Stunde später erneut das klare Getränk, das den Kopf vernebelt. Eine Richterin am Amtsgericht in Neubrandenburg verurteilte den alkoholkranken Mann darum im November zu einer sechsmonatigen Haftstrafe, unbedingt sei die zu verbüßen. Bewährung käme nicht mehr in Frage angesichts der Zahl der Vorstrafen und der ewigen Klauerei.

Dieb bei Schnaps-Klau inflagranti erwischt
Wodka wieder weg

Dieb bei Schnaps-Klau inflagranti erwischt

qWoldegk

Neubrandenburg nimmt 12.000 Euro wegen Ruhestörung ein
Laute Musik

Neubrandenburg nimmt 12.000 Euro wegen Ruhestörung ein

qNeubrandenburg

So viel Geld bekommen Vereine von Staatsanwaltschaften und Gerichten
Spenden-Gelder

So viel Geld bekommen Vereine von Staatsanwaltschaften und Gerichten

qNeubrandenburg

Das wollte sich Verteidiger Bartsch nicht gefallen lassen und legte Berufung ein, die leidige Angelegenheit muss nun vor dem Landgericht erneut verhandelt werden. Aber auch den Rechtsanwalt plagen Zweifel. Macht er alles richtig? Oder könnte seinem Mandanten das halbe Jahr auch gut tun — hinter Gittern zwar, aber mit einem Dach über dem Kopf, einmal warmem Essen am Tag, mit sauberen Klamotten, fließendem Wasser und ärztlicher Obhut? Denn diese Annehmlichkeiten kennt der kontinuierliche Schnapsdieb nicht. Der erzählt, er sei obdachlos — offiziell heißt das wohnungslos, im Neubrandenburger Heim für Frauen und Männer wie ihn will man ihn aber nicht mehr und hat Hausverbot ausgesprochen. Anwalt Bartsch weiß, dass sein Mandant nicht selten im Vorraum einer großen Sparkassen–Filiale in der Kreisstadt schläft.

Dabei sah das im vergangenen Herbst gar nicht so schlecht aus: Der Alkoholkranke kam im Schloss in Zahren zwischen Penzlin und Ankershagen unter, einem sozialtherapeutischen Wohnheim. Hier „regieren“ die Blau–Kreuzler, die Abstinenz auf ihre Fahne geschrieben haben und mit Hilfe des Glaubens jene unterstützen, die von ihrer Sucht ablassen wollen. Aber der Neuankömmling ist dort wieder abgehauen und jetzt scheinen in Zahren die Türen für ihn geschlossen zu sein, die Regeln sind gerecht, aber streng. Anwalt Bartsch weiß schon Bescheid: „Immer, wenn der Suchtdruck so riesengroß wird, geht er stiften oder stiehlt“.

Berufungsrichter macht Entzug zur Bedingung

Aber sechs Monate Gefängnis, für ein bisschen Schnaps — Bartschs Zweifel überwiegen am Ende doch: Ob das Urteil aus dem Amtsgericht auch ein gerechtes war? Gerade hat der Jurist mit einer Sozialarbeiterin gesprochen, und die meinte zum Entsetzen des Juristen, wo könne es der Delinquent schon besser haben als im Strafvollzug.

Vielleicht stattdessen eine Entziehung? In einer Reha–Einrichtung nach der Entgiftung oben im Klinikum? Verteidiger Bartsch geht während der Berufungsverhandlung am Landgericht in die Offensive. Er zweifele an der vollen Schuldfähigkeit seines Klienten, der sei doch aufgrund seiner Sucht nur noch sehr bedingt steuerungsfähig. Berufungsrichter Jochen Unterlöhner sieht das ähnlich. Die Freiheitsstrafe „pur“ wird in eine Bewährungsstrafe umgewandelt, aber nur, wenn sich der obdachlose Mann einer Entziehungskur unterzieht und die auch durchhält. Der gesetzliche Betreuer, der alle behördlichen und finanziellen Angelegenheiten des kranken Mannes regelt, soll sich kümmern.

Der Mann, der jetzt wieder auf seine Entgiftungsstation zurückkehrt, nickt dem Richter zu. Er wolle alles so machen, haargenau. Letzte Chance und so, er wisse doch Bescheid. Anwalt Bartsch schaut noch skeptisch. Nächste Woche komme er ihn in der Klinik besuchen, ruft er ihm hinterher.