Sucht
„Ich hab 25 Jahre meines Lebens dem Alkohol geopfert“
Pasewalk / Lesedauer: 4 min

Thomas Beigang
Das „Blaue Mobil“ macht gerade in Neubrandenburg Station. Die nicht nur aus seiner Sicht gute Kunde verbreitet Matthias Kohlstedt, der „Chef“ des Blauen Kreuzes in Mecklenburg–Vorpommern. Von Dienstag bis Donnerstag dieser Woche steht das Fahrzeug auf dem Marktplatz der ehemaligen Bezirksstadt und dessen Besatzung allen Ratsuchenden in Sachen Alkoholismus zur Verfügung.
Das „Blaue Kreuz“ ist ein christlicher Suchthilfeverein, der seinen Auftrag darin sieht, Suchtkranken und deren Angehörigen zu helfen. Niemand müsse aber Christ sein, wenn er sich helfen lassen will, heißt es. „Kommen kann jeder“, so Kohlstedt.
"Musste viele krasse Erlebnisse machen"
Regelmäßig unterwegs im Land, um Alkoholkranken zu helfen, ist auch Steffen Krumm von der Ostsee–Insel Rügen. Der Mann, 1967 auf der Insel geboren und selbst Angestellter beim Blauen Kreuz, setzt sich auf seine sehr eigene Art für Aufklärung und Prävention ein: Er liest aus seinen eigenen Büchern.
Vor fünf Jahren entdeckte der trockene Alkoholiker seine Liebe zum Schreiben und offenbarte sein katastrophales Leben in seinem Debüt–Roman „Mein tödlicher Freund“. So will er auf die enorme Macht des Alkohols aufmerksam machen. „Ich habe 25 Jahre meines Lebens dem Alkohol geopfert und musste viele krasse Erlebnisse machen, die ich in diesem Buch schildere“, so der Autor.
Krumm ist vor allem unterwegs zu „Gleichgesinnten“ und liest in Selbsthilfegruppen. Erst vor einigen Tagen war der Rüganer bei Betroffenen in Torgelow und Pasewalk und hat dort vorgetragen. Vieles, was der Mann vom Blauen Kreuz liest, kennen die Zuhörer aus eigenem Erleben. Den Druck, unbedingt trinken zu müssen, regelmäßige Abstürze, den Verlust sozialer Kontakte und Brüche mit der eigenen Familie.
MV ist auch weiterhin ein „Land der Trinker“
Am Ruf Mecklenburg–Vorpommern als „Land der Trinker“ hat sich auch in den vergangenen Jahrzehnten nur wenig geändert. Und Fakten geben dem recht: Unter 1000 Einwohnern in Mecklenburg–Vorpommern gibt es statistisch 21 alkoholabhängige Patienten, nur in Bremen sind laut offiziellen Daten noch mehr Menschen von der Alkohol–Sucht betroffen. Zum Vergleich: In Bayern (!) sind es nur 13.
Eine befriedigende Antwort auf die Frage, warum im Nordosten so viel und heftig getrunken wird, kann auch Suchtberaterin Jaqueline Beilke nicht geben. Die Therapeutin aus dem seit 1990 existierenden Suchtbehandlungszentrum „Haus der Begegnung“ in Neubrandenburg denkt, die Ursachen dafür seien „vielschichtig“. Eine mögliche Erklärung wäre vielleicht in der Gehaltsstruktur zu finden. Ärmere Menschen lebten ungesünder, weiß sie, und dort werde auch mehr Alkohol getrunken.
Experten sprechen von zwei Ursachenkomplexen, die für das Abrutschen in die Abhängigkeit verantwortlich sein können. „Es gibt eine genetische Komponente“, so Beilke, denn nicht jeder, der Alkoholmissbrauch betreibe, werde auch abhängig. Und nicht zu vergessen die sogenannte soziale Komponente, ob jemand aus einer Familie stamme, in der viel getrunken wird. Das dem Haus der Begegnung angeschlossene Übergangswohnheim und das Heim für chronisch mehrfach geschädigte Alkoholkranke sind in aller Regel ausgebucht. Die 30 Plätze sind nahezu immer besetzt, an „Nachwuchs“ fehlt es nicht.
Die wenigsten schaffen es beim ersten Mal
Franz–Peter Spatz, der in Pasewalk eine Selbsthilfegruppe unter der Ägide des „Blauen Kreuzes“ für Alkohol– und andere Suchtkranke leitet, will niemanden aufgeben, sagte er mal dem Nordkurier. Natürlich gebe es Rückfälle, kaum jemandem, der sich das Trinken abgewöhnen will, gelinge das beim ersten Mal. Jeder könne aber immer wieder zu ihnen in die Gruppe kommen. Und ohne diese und die Mut machenden Gespräche mit anderen Betroffenen hätten es viele bestimmt nicht geschafft, ihre Sucht erfolgreich zu bekämpfen, glaubt der ehrenamtliche Therapeut. Buchlesungen eines Autoren, der an der gleichen Krankheit leidet, würden vieles sehr glaubhaft machen.