Erfahrungsbericht

In zehn Monaten vom Rollstuhl zur Mecklenburger Seenrunde

Neubrandenburg / Lesedauer: 7 min

Die Mecklenburger Seenrunde geht über 300 Kilometer, doch nach einem Knochenbruch war seine schwierigste Tour der Weg zum Startpunkt. Was Reporter Simon Voigt dabei gelernt hat.
Veröffentlicht:27.05.2023, 07:08

Von:
  • Author ImageSimon Voigt
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Weite Touren mit dem Fahrrad sind schon lange mein Ding. Ich war schon öfter Bikepacking, also nur mit dem Fahrrad und allem, was sich daran befestigen lässt, im Urlaub und von der Mecklenburger Seenrunde träumte ich schon, seitdem ich das erste Mal von ihr hörte. Weiter als 180 Kilometer an einem Tag war ich aber noch nie gekommen. 2020 war das, als ich vermutlich in meiner besten Form war, was auch an Corona lag. Das Virus verschaffte durch allgemeinem Stillstand und Kurzarbeit viel Zeit, fegte nur leider die Seenrunde und vieles mehr weg.

Viel zu schnell für den glatten Marktplatz

Danach fand ich wieder viele Ausreden, doch in diesem Jahr passte einfach alles zusammen: Mein Fahrrad rollte gut und ich hatte seit März wieder 800 Trainingskilometer gesammelt. Dass ich wieder an diesen Punkt komme, daran hatte ich vor zehn Monaten gezweifelt. Da lag ich im Krankenhaus, noch in den verschwitzten Fahrradklamotten des Vortages und dachte über diese Mauer nach.

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Es sind ja immer die banalsten Situationen, in denen es passiert. Feierabendausfahrt Ende Juli 2022, ein lauer Freitagabend im Hochsommer, es war noch lange hell. Schnelle Runde über 40 Kilometer nach Woggersin, Penzlin und wieder zurück nach Neubrandenburg. Zum Abschluss noch einmal in die Pedale treten, die Durchschnittsgeschwindigkeit will ja gehalten werden und ich hatte noch wichtige Termine an einem Kneipentresen.

Kontrollverlust bei 27 km/h

Dann stand da diese Mauer auf dem Marktplatz. Beton, hüfthoch, an einer der Treppen zur Tiefgarage. Sie steht ja immer da, nur dieses Mal kam ich ihr wohl einen Tick zu nah. Das Hinterrad blieb hängen oder es lag etwas auf dem Boden, so ganz genau kann ich das nicht mehr sagen und auch eine Neubrandenburger Webcam half bei der Auswertung nicht weiter.

Jedenfalls verlor ich die Kontrolle über mein Fahrrad – bei rund 27 km/h. Ziemlich präzise landete ich seitwärts auf den für solche Geschwindigkeiten eigentlich viel zu glatten Bodenplatten, mein Fahrrad schlitterte noch ein bisschen ohne mich weiter über den Boden. Irgendwie kam ich aus eigener Kraft wieder hoch, doch ich merkte schnell, dass Laufen jetzt keine gute Idee ist. Zum Glück war da eine Männergruppe auf dem Weg zu einer Party. Sie halfen mir auf eine Bank und riefen einen Krankenwagen. Mein Fahrrad stellten sie zu mir. Nicht einmal die Kette war rausgeflogen, wie ich konsterniert feststellte.

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Es kann immer noch schlimmer kommen

Ich war dafür irgendwie kaputt, so viel war mir schon klar. Vorsichtig ging es in die Notaufnahme, bloß keine Erschütterungen, Schmerzmittel, Röntgenbild, „oh, oh, wir behalten Sie lieber hier“. Am nächsten Tag die Bestätigung aus dem Computertomographen: komplexe mehrfragmentäre Acetabulumfraktur rechts – Laien nennen es einen Beckenbruch.

Die Chirurgen tüftelten direkt einen Plan für gleich zwei Operationen aus, den der Oberarzt am Montag wieder in Frage stellte. Denn natürlich kann es immer noch schlimmer kommen. Es ist ein fieser Bruch, so viel war klar, doch meist holen ihn sich die Patienten bei einem Unfall mit dem Auto oder Motorrad. Und der wirbelt da unten meist viel mehr durcheinander, als es bei mir und meinem präzisen Marktplatz-Aufschlag der Fall war. Ein Professor aus Greifswald lieferte eine Zweitmeinung und riet ebenfalls zu einer konservativen Behandlung, also keiner stundenlangen Operation, die eine zentimeterlange Narbe rund um den halben Bauch und einen tiefen Eingriff inklusive Metallplatten mit sich brächte.

Endgegner Treppenhaus

„Sport frei!“ sollte nun das Motto (sein Motto, der Professor betreibt Kraftsport) sein. Für mich bedeutete das, das Hüftgelenk und alle Muskeln rund um das Becken wieder in Bewegung zu versetzen, aber bloß nicht aufzutreten, damit der Bruch von selbst heilen kann. Dutzende Einheiten an Physiotherapie folgten, Krücken und ein Rollstuhl bestimmten fortan meinen Alltag in der dritten Etage. Der Endgegner war das Treppenhaus in meinem Nachkriegsaltbau aus den Fünfzigern. Ungleiche Treppenstufen und tiefe Geländer aus einer Zeit, in der Barrierefreiheit noch ein Fremdwort war.

Als Fahrradfahrer war mir Kopfsteinpflaster schon immer suspekt, im Rollstuhl verfluchte ich es nun noch viel mehr. Selbst die abgesenkten Bordsteinkanten am Zebrastreifen zwischen Marktplatz und Turmstraße sind im Rollstuhl ein Hindernis. Beim Bauen hatte dort offensichtlich niemand an die schwächsten Benutzer gedacht.

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Kopfsteinpflaster soll ja schön sein, aber haben Sie es schon einmal im Rollstuhl überquert? (Foto: Simon Voigt)

Nach elf Wochen die ersten Schritte

Elf Wochen später setzte ich erstmals wieder den rechten Fuß vorsichtig auf, begann ihn immer mehr zu belasten. Der Professor meinte, dass ich vielleicht zum Ende des Jahres wieder Radfahren kann. Zumindest auf einem Ergometer hatte ich das bis dahin auch geschafft. Es folgten drei Wochen Rehabilitation, bei der ich einen Physiotherapeuten fragte, ob er an meiner Stelle die Mecklenburger Seenrunde für realistisch hält. Spricht nichts dagegen, meinte er, wenn ich rechtzeitig mit dem Training beginne.

Also los, einfach machen! Über einen Freund rutschte ich noch in eine Gruppe und wir gönnten uns am Freitag, dem traditionellen Start der Seenrunde, den Höchstpreis von 189 Euro bei der Nachmeldung. Am nächsten Morgen um 4.30 Uhr ging es für uns los, damit wir nach hinten raus genug Zeit haben. Ich hatte mit vielem gerechnet, auch mit dem Scheitern, doch es rollte viel besser als erwartet. Lässig erreichten wir ein Depot nach dem anderen. Insgesamt gibt es sieben auf der Strecke, womit die mächtigen 300 Kilometer in überschaubare Einheiten zerfallen.

Getragen hat uns die gute Stimmung: Rund 700 Unterstützer packen laut Veranstalter bei diesem Radmarathon mit an und sie haben dabei auch wirklich Bock. Ehrenamtliche, Vereinsmitglieder, Abiturklassen, Feuerwehrleute, Mechaniker, Sanitäter, das Rote Kreuz und zahlreiche Unternehmen helfen mit, damit aus dieser Tour wirklich etwas Besonderes wird.

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Abfahrt im Morgengrauen nach Burg Stargard (Foto: Simon Voigt)

Alleine ist das unmöglich

In den vielen Dörfern der Region jubelten uns die Menschen zu, Kinder fuhren ein Stück mit. Manche hatten es sich mit Gartenstühlen, einem Grill und einer Kiste Bier gemütlich gemacht, um den ganzen Tag die tausenden Radfahrer anzufeuern, die hier an ihre Grenzen gingen. Die Seenrunde ist ein Volksfest für die ganze Seenplatte. Großes Lob auch an diese kleine Kapelle in Wendorf, die uns an einer Kreuzung mit Pauken und Trompete den nötigen Schwung für die letzten Kilometer gab, die bekanntlich die schwersten sind. Streckenposten wiesen an unübersichtlichen Abschnitten den Weg, wofür wir uns stets bedankten und stets die gleiche Antwort bekamen: „Ach, wir machen das doch für euch!“

Zum Abschluss ein Tritt gegen die Mauer

Ohne Unterstützung wie diese hätte ich es nicht einmal zum Start geschafft. Freunde und Familie hatten mir zuerst geholfen, als ich sie brauchte und mich dann motiviert. Irgendwie mussten ja das Fahrrad nach Hause und die frischen Klamotten ins Krankenhaus kommen. Danke! Pflegerinnen, Ärzte und Physiotherapeuten brachten mir die Selbstständigkeit zurück und der Lieferservice des Biomarktes bis dahin das Essen.

Nach nicht ganz 16 Stunden erreichten wir das Ziel im Kulturpark. Auf dem Heimweg fuhr ich noch an dieser kleinen Mauer auf dem Marktplatz vorbei und trat mit dem rechten Fuß gegen sie. Um die Dinge zum Ende zu bringen.

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Weite Strecken mit dem Fahrrad bleiben das beste Leben! Hier: an der Bushaltestelle in Quadenschönfeld. (Foto: Simon Voigt)