Klinikum schlägt Alarm

Intensivstationen am Limit – Chefarzt spricht Klartext

Neubrandenburg / Lesedauer: 5 min

Viele Kliniken können derzeit nicht alle Intensivbetten versorgen. Für den Neubrandenburger Chefarzt ist dies das Ergebnis einer „krankhaften“ Gesundheitspolitik.
Veröffentlicht:18.12.2022, 06:12

Von:
  • Susanne Schulz
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Alarmruf von der Intensivstation: Dort, wo Notfälle an der Tagesordnung sind, muss derzeit die Belegschaft SOS funken. „Wir sind hier am äußersten Limit“, sagt Dr. Knut Mauermann, Chefarzt der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Dietrich-Bonhoeffer-Klinikum Neubrandenburg. Ausfallraten, wie er sie in seinen bereits 30 Berufsjahren noch nicht erlebt hat, mündeten derzeit in einen geradezu „utopischen“ Krankenstand, beschreibt der Mediziner ein Problem, das in diesen Tagen viele Krankenhäuser in der Region an die Grenzen des Machbaren treibt.

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Gut ein Drittel der Intensivbetten unbesetzt

Über die aktuelle Notlage hinaus erlebt er diese Situation als Ergebnis einer schon lange verfehlten Gesundheitspolitik in Deutschland, deren Entscheidungsträger offenbar „ein anderes Gesundheitswesen“ sähen als die Praktiker. „Was wir durch das akute Infektionsgeschehen bei vielen Mitarbeitenden sehen, demaskiert einen generellen Mangel beim pflegerischen und medizinischen Personal“, wütet der Mediziner.

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Nur noch 24 der regulär 38 Intensivbetten könnten derzeit am Klinikum personell versorgt werden. Denn von den momentan überall grassierenden schweren Atemwegserkrankungen bleiben Klinik-Mitarbeiter natürlich nicht verschont; sei es, dass sie selbst erkranken oder dass sie wegen ihrer erkrankten Kinder ausfallen. Im Pflege-Team der Intensivstationen belief sich der Krankenstand in dieser Woche auf 25 bis 30 Prozent, berichtet der Bereichspflegedienstleiter Christian Böttcher. Kollegen würden aus den freien Tagen geholt oder schieben sogar geplanten Urlaub auf, um den Betrieb am Laufen zu halten.

Hilferufe von den benachbarten Kliniken

Dass es anderenorts nicht besser aussieht, verdeutlichen die täglichen Anfragen anderer Krankenhäuser zur Übernahme von Patienten. Wobei aus vorpommerschen Krankenhäusern oft zu hören ist, dass vorherige Anfragen in der Uni-Klinik Greifswald erfolglos waren. „Momentan können wir leider immer seltener eine Übernahme zusagen. Aber wir versuchen alles“, betont Böttcher.

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„Das ist ein tägliches Ringen“, bestätigt Chefarzt Mauermann; entschlossen, diesen Kampf nicht aufzugeben. Auch wenn manche nicht akut nötige größere Operation, die eine anschließende Intensivbehandlung erwarten lässt, derzeit verschoben wird: Unfassbar ist für ihn die Einstellung planbarer Eingriffe an der Berliner Charité, zunächst bis zum Jahresende. „Wenn Europas größtes Uni-Klinikum elektive Behandlungen aussetzt, weil sonst die Akutversorgung nicht gesichert werden kann – das ist ein Offenbarungseid“, stellt er fest. Aus Neubrandenburg werde es solche Meldungen nicht geben.

Bittere Prognose: Noch lange nicht am Tiefpunkt

Jedoch sieht der Intensivmediziner diese Notlagen als Symptom einer seit 32 Jahren krankhaften Entwicklung in der Gesundheitspolitik. „Bis zur Wende gab es in Ostdeutschland eine sehr gute Pflegebesetzung und Ausbildungssituation“, sagt er. Die Schließung von Krankenhäusern, rückläufige Ausbildungskapazitäten, die Abwanderung einer ganzen gut ausgebildeten Generation, weil anderswo bessere Arbeit bei besserer Bezahlung zu finden war, und schließlich auch die Tatsache, dass sich mittlerweile kaum mehr genügend geeignete Bewerber fänden, führe die Pflege-Branche „in eine Senke, deren Tiefpunkt wir noch gar nicht sehen“.

Nicht rosiger sieht der Chefarzt die Situation im medizinischen Bereich: Die Zahl der Studienplätze sei heute in ganz Deutschland gerade mal so hoch wie einst in der alten Bundesrepublik; und das in Zeiten zunehmenden Ärztemangels. Ohne jene Kollegen, die nicht in Deutschland ausgebildet wurden – allein in Mauermanns Klinik sind Mediziner aus mehr als zehn Nationen tätig – wäre das Problem noch größer.

Die jüngst von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) als „Revolution“ angekündigte Krankenhausreform lässt den Neubrandenburger Intensivmediziner nur müde abwinken. „Die Politik redet alles schön“, kritisiert er und wünscht sich stattdessen, Entscheidungsträger würden tatsächlich mal in die nicht-universitären Versorgungseinrichtungen gehen, wo täglich unter schwierigen Bedingungen und finanziellem Druck für die Patienten gearbeitet wird.

Kritik an neuem Ausbildungsmodell

„Das geht alles nur durch das Engagement der Mitarbeiter“, betont Mauermann. „Ohne qualifiziertes und hoch motiviertes Personal in allen beteiligten Berufsgruppen werden immer größere Lücken entstehen, die zu füllen immer schwieriger wird.“ Die aktuellen Probleme seien nicht kurzfristig zu lösen, müssten aber erst mal in vollem Umfang auch wahrgenommen werden.

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Das bezieht Bereichspflegedienstleiter Christian Böttcher auch auf die Wertschätzung seines Berufs. Viel Kraft werde da durch administrative Vorgänge und Dokumentationspflichten gebunden. Die generalistische Ausbildung statt der vorherigen Sparten für Gesundheits- und Krankenpflege, Altenpflege sowie Kinderkrankenpflege habe den Beruf überdies „nicht attraktiver gemacht“. Unmut gibt es zudem über den von der Bundesregierung gepriesenen Pflegebonus, der indessen nur Fachkräften für die unmittelbare Pflege „am Bett“ zuteilwird – nicht Pflegehelfern, nicht den Kollegen in der Notaufnahme, in OP und Anästhesie oder assistierenden Berufen wie etwa der Reinigung.

Was speziell die Arbeit auf der Intensivstation angeht, so beobachtet Böttcher, dass sie für Berufsanfänger längst nicht mehr so attraktiv ist wie einst für seine Generation: Statt der Aussicht auf mehr Geld und mehr Verantwortung locke die jüngere Generation bei der Karriereplanung eher eine gedeihliche Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben, schrecke gar der Druck der Verantwortung für schwer kranke Patienten. Ein Projekt zur Mitarbeitergesundheit, das mit den Buchstaben ICU die englische Bezeichnung „intermediate care unit“ und den Klang von „I see you“ (Ich sehe dich) verbindet, soll ebenso wie erhöhte finanzielle Zuschläge für Intensiv-Pflegekräfte das Fachgebiet attraktiver machen. Denn selbst ohne den aktuellen Krankenstand sind in dem auf 106 Mitarbeiter ausgelegten Pflegeteam derzeit mehrere Stellen unbesetzt.