Ein Musiker, ein Zuhörer
Kleinstes Konzert der Welt jetzt auch in Neubrandenburg
Neubrandenburg / Lesedauer: 4 min

Susanne Schulz
Zwei Menschen in einem Raum. Auf Abstand, schweigend, einander in die Augen sehend. Und dann: Musik. Ein Konzert, ja wirklich, auch wenn das zunächst fremd klingen mag. Was ein Konzert ausmacht, ist hier fokussiert auf das äußerste Minimum von zwei Personen: eine, die lauscht; eine, die musiziert – und zuvor gerade erst durch den intensiven Blickkontakt erkundet hat, welche Musik jetzt passend wäre.
Diese Idee, die jetzt von Neubrandenburger Musikern auch in die Seenplatte getragen wird, hat andernorts längst einen Namen: 1:1-Konzerte machten deutschlandweit schon in diversen Städten Furore und haben auch bereits Spielorte im Ausland erobert. Neubrandenburg dürfte die erste Stadt M-Vs sein, wo Musiker und Zuhörer einander auf diese Weise begegnen. Endlich liegt nun der behördliche Segen vor, um loszulegen.
Kein Eintritt, aber Spenden willkommen
„Das Warten hat ein Ende!“, freut sich Klarinettistin Carolin Paschen. Gemeinsam mit ihrem Cello-Kollegen Uwe Christian Müller (beide sind Mitglieder der Neubrandenburger Philharmonie) und Christian Stähr, der als Kantor der Johanniskirche schon mehrfach ungewöhnliche musikalische Formate in der Vier-Tore-Stadt etablierte, hat sie die 1:1-Konzerte auf den Weg gebracht.
Der Titel könnte nicht wörtlicher zu nehmen sein: Ein/e Musiker/in spielt für eine/n Zuhörer/in – die Wahl der Stücke erfolgt nach einminütigem wortlosem Blickkontakt. Gut zehn Minuten dauert die geheimnisvoll anmutende Begegnung, die beiden Beteiligten wohltut: den Zuhörern, die kulturelle Erlebnisse schon so lange vermissen, und den Musikern, denen ebenso lange das Publikum, die Bühne, ein wichtiger Lebensinhalt fehlt. Honorar oder Eintritt gibt es bei den 1:1-Konzerten nicht: Wer etwas spenden möchte, tut das an die Deutsche Orchester-Stiftung, für einen Nothilfefonds zugunsten freischaffender Musiker, die der Corona-Lockdown um die Existenzgrundlage bringt.
Gleiche Intensität wie vor hunderten Zuhörern
Carolin Paschen erlebt die zweisame Begegnung (mit zwei Metern Abstand und gemäß den geltenden Hygiene-Auflagen) als ebenso intensiv wie ein Konzert mit dem Orchester vor hunderten Zuhörern. „Das hat mich sehr berührt“, beschreibt sie ihren ersten Probelauf im 1:1-Format. Die Begegnung habe „eine Wirkung, die keine Worte braucht“. Auch nicht für die jeweils individuelle Stückauswahl: „Musiker haben feine Antennen. Da nehmen wir, glaube ich, ganz gut wahr, welche Stimmung jemand ausstrahlt und was ihm gefallen könnte.“
An Mitstreitern fehlt es nicht: Die ersten 1:1-Konzerte sollen am Donnerstag im Weinladen „Weinander“ an der Turmstraße stattfinden; der Reigen der bereits gewonnen Gastgeber reicht von Zollhaus, Biomarkt und Physiotherapie im Wiekhaus über Johannis- und Friedenskirche bis hin zur Regionalbibliothek und dem Polylux-Verein auf dem Datzeberg. Und das Projekt soll wachsen, in die Wohngebiete hinein und hinaus in die Region. Auch viele Musiker sind bereit mitzumachen, Kollegen aus dem Orchester ebenso wie freiberufliche Künstler. Unterstützung kommt zudem von der Bürgerstiftung, dem Freundeskreis Neubrandenburger Philharmonie/Konzertkirche sowie der Theater und Orchester GmbH (tog).
Welcher Musiker kommt, bleibt eine Überraschung
Wer ein 1:1-Konzert bucht, verabredet zunächst nur Ort und Zeit. Welcher Musiker, welches Instrument, welche Musik ihn erwartet, bleibt eine Überraschung. So persönlich, so exklusiv – das ist auch für Zuhörer eine neue Erfahrung. „Wer bin ich denn, dass ich ein solches Privileg bekomme?“, wurde Carolin Paschen erstaunt von ersten Test-Adressaten gefragt. Doch das Projekt soll Musik ja eben auch zu Menschen und an Orte bringen, wo sie nicht vermutet wird, bestätigt Christian Stähr – gerade damit das Leben in diesen Zeiten „nicht nur aus Essen, Schlafen, Arbeiten und Corona“ bestehe.
Entstanden ist ein solches Format schon vor der Pandemie, 2019 bei einem Kammermusikfestival in Süddeutschland. In den vergangenen Monaten fand das Corona-gerechte Musikerlebnis immer mehr Mitstreiter: in Lübeck, Hamburg und Berlin ebenso wie in Leipzig und Dresden, München und Stuttgart, in einem Blumenladen in Genf, einer Klinik in Australien oder dem Kennedy-Center in Washington D. C. Von der Initiative Health Media Award, die Projekte der „Gesundheitskommunikation“ würdigt, wurde es gerade mit dem Health Angel (Gesundheitsengel) in der Kategorie „Soziales Engagement“ ausgezeichnet.
Ein Projekt auch für die Zeit nach der Pandemie
Eine Zukunft hat die Idee ganz sicher auch über die Pandemie hinaus: „Es ist ein Format, das viele Möglichkeiten bietet und sich toll weiterentwickeln kann“, kündigt Carolin Paschen an und denkt dabei zum Beispiel an Projekte für Kinder. Voller Tatendrang blicken die Akteure nun zunächst den ersten 1:1-Konzerten in Neubrandenburg entgegen. Buchungen und Anfragen sind möglich unter https://1to1concerts.de oder unter der Rufnummer 0395 43092909.