Interview
Landrat Heiko Kärger über Corona, Kreisumlage und Biotonne
Neubrandenburg / Lesedauer: 12 min

Herr Kärger, um wie viele Jahre hat Corona den Landkreis Mecklenburgische Seenplatte in seiner Entwicklung zurückgeworfen?
Nicht um Jahre – nicht einmal um Monate. Corona bedeutet für uns, dass wir unseren Arbeitsrhythmus anders gestalten. Aber von den geplanten Investitionen ist alles durchgeführt worden. Wir haben mehr Kosten, das ist einfach so. Wir werden aber durch das Land unterstützt, genau wie die Kommunen, indem Gewerbesteuer-Ausfälle ausgeglichen werden. Einige Unternehmen haben Schwierigkeiten, sie erzielen in diesem Jahr weniger Umsatz als in der Vergangenheit. Auch für die Bevölkerung gibt es erhebliche Belastungen – allein durch den Shutdown im Frühjahr, als wir die Schulen und Kindergärten geschlossen hatten. Wenn man Homeoffice macht und nebenbei die Kinder betreuen muss, ist das schon eine schwierige Situation für die Familie. Aber das bedeutet nicht, dass der Landkreis zurückgeworfen wird.
Die Seenplatte ist der größte Landkreis Deutschlands: Hat sich dieses Problem in der Corona-Krise, wenn es um Abstand geht, zum Vorteil ausgewirkt?
Dass wir nicht so hohe Inzidenz-Zahlen wie Berlin oder Baden-Württemberg haben, hängt sicher mit der dünnen Besiedlung zusammen. Es hängt aber auch damit zusammen, dass hier in Mecklenburg-Vorpommern Maßnahmen sehr früh ergriffen wurden und nicht darauf gewartet wurde, dass Inzidenz-Zahlen steigen. Dann wäre es irgendwann zu spät. Es muss gesichert sein, alle Kontaktpersonen nachverfolgen und absondern zu können. Damit aus einem bekannten Fall nicht gleich zwanzig andere werden.
Das ist also aus Ihrer Sicht die beste Strategie?
Die Nachverfolgung ist unwahrscheinlich wichtig. Das haben wir sehr konsequent gemacht. Zurzeit haben wir 16 Teams im Einsatz und 16 Teams in Reserve. Wir haben Unterstützung von der Bundeswehr bekommen. Uns helfen zurzeit 15 Soldaten und 18 Helfer aus unterschiedlichen Bundesbehörden. Kontaktverfolgung ist das A und O. Wenn man nicht nachvollziehen kann, mit wem der Erkrankte zusammen war, dann hat man verloren. Mein Dank geht an alle, die damit zu tun haben.
Ihr Vorgehen wurde sogar von der SPD-Ministerpräsidentin als positives Beispiel herausgestellt. Ist die aktuelle Entwicklung darauf zurückzuführen, dass Sie schon vor Wochen Maßnahmen angeordnet haben, die zu dem Zeitpunkt unpopulär waren?
Es gibt mehrere Punkte. Es war zum einen richtig, dass wir sehr früh Kontakte und Familienfeiern eingeschränkt haben. Bis zu dem Zeitpunkt hatten wir die größten Ausbrüche aufgrund von Familienfeiern. Dann kam hinzu, dass wir durch unsere Lage profitieren. Die Pendlerströme haben wir nicht so stark wie im Westen unseres Bundeslandes, ebenso nicht den Einfluss von Polen wie Vorpommern-Greifswald. Nichtsdestotrotz verzeichnen wir wieder einen Anstieg. Aber das geht sehr schnell, wenn in einem Pflegeheim plötzlich viele Fälle auftreten. Unter den Infizierten waren leider auch Pflegekräfte. Das Phänomen haben wir in mehreren Bereichen: Pflegekräfte stecken sich untereinander an. Das ist ärgerlich. Gerade medizinisches Personal muss so viel Fachwissen haben, dass es das zu verhindern weiß.
Muss man trotzdem aus Ihrer Sicht auch über das Schließen von Schulen noch einmal nachdenken?
Ja. Es gibt auch die Idee des Wechselunterrichts. Das würde zu einer Entspannung in der Schülerbeförderung führen. Wir reden hier über ein Modell für die oberen Jahrgänge. Ausdrücklich nicht für die Grundschulen. In den zurückliegenden Monaten haben wir erhöhte Hygiene-Standards in den Schulen mit Desinfizieren und Lüften eingeführt. Dennoch empfehle ich, untereinander zu tauschen: Eine Klasse macht eine Woche lang Präsenzunterricht, in der nächsten macht es die andere. Dann wären sofort die Schule und der Busverkehr entlastet und die Klassen würden sich nicht gegenseitig anstecken. Wir sind dabei, das vorzubereiten. Das Land muss allerdings zustimmen.
Sehen Sie die Chance auf Lockerung von Maßnahmen nur im landesweiten Maßstab? Oder wird die Seenplatte eigenständig prüfen, was Sie wann zurücknehmen kann?
Es gibt in der Corona-Verordnung bestimmten Zahlen-Grenzen. Die können wir nicht unterschreiten. Die Vorgaben der so genannten Ampel können wir nicht umgehen. Ich glaube nicht, dass wir in nächster Zukunft Einschränkungen aufheben werden. Ich hoffe, dass wir für das Weihnachtsfest Lockerungen machen können. Aber das muss landeseinheitlich, teilweise auch bundeseinheitlich gemacht werden – zumindest mit den Nachbarn. Wenn beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern alle Gaststätten öffnen würden, in Brandenburg aber nicht, so würden viele Gäste aus Brandenburg kommen, um die Angebote hier zu nutzen. Eine gesonderte Regelung für die Seenplatte halte ich für nicht vernünftig.
Am Abstrichzentrum in Neubrandenburg bilden sich regelmäßig lange Schlangen. Warum wird nicht einfach ein weiteres Zentrum in Neustrelitz geöffnet?
Das Abstrichzentrum in Neustrelitz ist vorbereitet. Aber das Problem sind nicht die Abstrichzentren, sondern die Laborkapazitäten. Zudem haben wir drei mobile Abstrichteams, die in der Fläche unterwegs sind. Wir müssen uns vielleicht überlegen, wie wir die Ströme besser steuern, damit nicht alle zur gleichen Zeit zum Abstrichzentrum fahren. Aber ein weiteres Abstrichzentrum ergibt für uns erst Sinn, wenn wir mehr Kapazitäten in der Beprobung bekommen.
Es soll ja auch in jedem Landkreis ein Impfzentrum entstehen. Gibt es dazu schon genauere Pläne?
Es soll mindestens ein Impfzentrum in jedem Landkreis eingerichtet werden. Weitere sind aber in Vorbereitung. In den ehemaligen Kreisstädten wie Neustrelitz, Demmin, Waren (Müritz) könnten sie eingerichtet werden. Aber dafür brauchen wir größere Räumlichkeiten und Parkplätze. Wir prüfen auch die Nutzung von Turnhallen, wollen aber in erster Linie auf unsere kreiseigenen Liegenschaften zurückgreifen. Das bereiten wir zurzeit vor.
Die finanziellen Auswirkungen der Pandemie lassen sich möglicherweise erst im nächsten Jahr abschätzen. Der Haushalt soll dennoch ausgeglichen werden. Könnten die Mehrkosten durch Corona das Errungene wieder gefährden?
Wir bekommen die Schlüsselzuweisungen vom Land. Die Gewerbesteuerausfälle werden ausgeglichen. Und die Mehrkosten aufgrund von Corona sind vom Land relativ gut mitfinanziert worden.
Wir werden eher Probleme im folgenden Jahr 2022 bekommen. Denn schon 2021 entstehen Mehrkosten allein durch Kitas in Höhe von rund 8,5 Millionen. Dazu kommen noch weitere Kosten, zum Beispiel durch Unterhaltsvorschüsse, Jugendhilfe und aus Regelungen des Bundesteilhabegesetzes. Insgesamt haben wir allein in den besagten sozialen Bereichen Mehrkosten in Höhe von etwa 18,5 Millionen. Bei einem Gesamthaushalt von ungefähr 560 Millionen hört sich nicht viel an. Aber wenn man das eine will, muss es gegenfinanziert sein. Letztlich sind es unsere Pflichtaufgaben. Die Standards ändern sich rapide nach oben und sie kosten Geld.
Neben den Schlüsselzuweisungen ist die Kreisumlage eine maßgebliche Einnahmequelle des Landkreises. Die Seenplatte hat hier die höchste Quote im Land, der Ruf nach schneller Senkung aus den Kommunen wird lauter. Welchen Spielraum sehen Sie?
Eine alleinige Veränderung der Kreisumlage löst die Probleme des Landkreises nicht. Uns fehlt Geld im Straßenbau, im Radwegebau und im ÖPNV. Wenn wir uns finanziellen Spielraum erarbeiten und den in eine Senkung der Kreisumlage stecken würden, könnten wir auf anderen Ebenen nichts tun. Wir sind verpflichtet, den Haushalt ausgeglichen darzustellen. Wir können nicht einfach Geld rausnehmen und es den Kommunen geben. Letztendlich ist das aber eine politische Entscheidung des Kreistags und kein Wille der Kreisverwaltung.
In Neubrandenburg wird dennoch darauf verwiesen, dass wohl eine Absenkung 2022 diskutiert wird und gefordert, dies in Teilen vorzuziehen...
Die Stadt Neubrandenburg hat in den vergangenen Jahren viel für den Schuldenabbau getan. Die normale Einnahme- und Ausgabesituation ist dort nicht schlecht. In der Gesamtbetrachtung der Gemeinden fängt das FAG (Finanzausgleichsgesetz, d. Red) an, zu wirken. Es gibt mehr Gemeinden, die nicht mehr im defizitären Bereich wirtschaften. Das dauert aber alles seine Zeit. Wenn man Geld übrig hat, muss man sich alle Facetten des Lebens angucken und nicht kurzfristig denken.
Für welche langfristigen Ziele möchten Sie denn finanzielle Spielräume nutzen?
Es gibt eine Studie über die Zufriedenheit der Menschen bei uns. Da kommen wir in einigen Positionen sehr gut weg und in anderen ganz schlecht. Das hängt erheblich mit der Mobilität zusammen. Menschen kommen schlecht zum Arzt, ins Krankenhaus und zu Einkaufsmöglichkeiten. Wir haben ein schönes Land, viel Fläche und wenig Menschen. Da müssen wir ein Angebot schaffen, dass diese Menschen vernünftig am Leben teilnehmen können. Aus meiner Sicht muss der ÖPNV in Zukunft anders aufgestellt werden. Und das kostet Geld.
Gut, aber ganz konkret gefragt: Der Vorschlag der Kreisverwaltung für 2021 wird lauten, die Kreisumlage beizubehalten?
Ja.
Und eine kolportierte Senkung von 2,5 Prozentpunkte im Jahr 2022...
...ist für mich keine Diskussionsgrundlage. Wir sind verpflichtet, den Haushalt auszugleichen. Und wenn jede Kommune, die das auf einmal nicht kann, der Meinung ist, das muss über eine Senkung der Kreisumlage erreicht werden, so ist das für mich eine falsche Herangehensweise.
Die Kreisumlage ist für viele Bürger ein eher abstrakter Posten, die Abfallgebühren hingegen spüren sie direkt im Portemonnaie. Viele haben das Gefühl, mit der Vereinheitlichung im Großkreis ist es für alle teurer und unflexibler geworden.
Die Gebühren haben mit der Größe des Kreises wenig zu tun. Die Leistungen für die Abfallentsorgung müssen nach bestimmten Jahren neu ausgeschrieben werden. Die Tarife steigen, ebenso die Anforderungen an die Müllbeseitigung, die Umweltverträglichkeit sowie den Arbeitsschutz. Wir hatten im Landkreis bei der Tonnengröße zunächst mehr Flexibilität, aber dagegen wurde erfolgreich geklagt. So haben wir jetzt eine rechtssichere Variante gefunden.
Nicht wenige stören die unterschiedlichen Mindestmengen...
...die in Neubrandenburg wegen der Biotonne geringer sind. Wir werden sie in der Kreisstadt nicht wieder abschaffen, aber auch nicht ad hoc flächendeckend im ganzen Landkreis einführen. Wir ermitteln gerade, wie viel Bioabfall überhaupt in einer normalen Restmülltonne zu finden ist. Wir wollen wissen, was wirtschaftlich überhaupt machbar ist.
Wir werden unseren Kompost kaum noch los. Früher haben wir ihn verkauft. Heute bezahlen wir, damit ihn uns irgendjemand abnimmt. Wir werden die Biotonne aber nach und nach auch in Städten wie Waren (Müritz), Neustrelitz und Demmin einführen.
Ist eine Einführung der Biotonne in anderen Städten für Sie also das höchste Maß an Gerechtigkeit?
Eine gewisse Gerechtigkeit ist zum Schluss da, weil alle diese Mindestmenge bezahlen müssen. Es ist zumindest so viel Gerechtigkeit, dass man Personengruppen gleich behandelt. Berücksichtigt wird leider nicht, was jeder einzelne an Müll produziert. Aber das wird man nicht hinbekommen.
Der Restmüll aus dem Gebiet des Entsorgungsverbunds OVVD kommt in die Seenplatte, auf die Deponie in Rosenow. Die ist in absehbarer Zeit gefüllt. Muss nicht jetzt schon an eine Nachfolgelösung gedacht werden, dann vielleicht in anderen Regionen der OVVD?
In Rosenow läuft die Planung für den nächsten Polder-Ausbau, da warten wir im Prinzip auf die Genehmigung. Damit ist die Mülllagerung für die nächsten Jahre gesichert. Darüber hinaus suchen wir, wahrscheinlich in Vorpommern, einen Entsorgungsstandort für mineralische Abfälle.
Norbert Rieger hat sich vor einigen Wochen mit recht emotionalen Worten aus dem Amt des Kreiswehrführers verabschiedet. Er beklagte unter anderem zu wenig Unterstützung aus Politik und Behörden. Ist das Ehrenamt in der Seenplatte in Gefahr, weil die Ausübenden zu viele Belastungen tragen?
Ich schaue nicht mit Sorge auf das Ehrenamt. Der Kreisfeuerwehrverband ist ein sehr starker Verband. Die Nachwuchsgewinnung wird aber immer schwieriger. Der Landkreis wird die Feuerwehr immer unterstützen. Das Ehrenamt lässt sich politisch nur unterstützen, indem die technischen Voraussetzungen geschaffen werden und indem man für den Einsatz wirbt und ihn wertschätzt. Das mag im Einzelfall nicht immer genug sein. Aber der Dank an das Ehrenamt aus ganzem Herzen steht bei mir ganz oben. Hilfe kann aber natürlich nie genug sein.
Durch den Lockdown fallen auch im Ehrenamt viele Maßnahmen aus. Wirft Corona die Freiwilligenarbeit zurück?
Das glaube ich nicht. Ehrenamt lebt von Freiwilligkeit. In der Corona-Zeit konnte Bestimmtes nicht gemacht werden, aber das traf die gesamte Bevölkerung. Die Zeit muss man einfach überbrücken. Ich glaube nicht, dass im Ehrenamt etwas wegbricht. Die Menschen machen es aus einem inneren Bedürfnis heraus.
Vom Ehrenamt zurück zum Hauptamt: Sie haben noch fünf Jahre als Landrat vor sich, wollen dann nicht mehr zur Wahl antreten. Was bleibt dann als Vermächtnis des Landrats Heiko Kärger?
(Lacht und winkt ab) Von einem Vermächtnis halte ich nichts. Es war eine Herausforderung, den Landkreis zusammenzuführen, dass er sich als Einheit versteht. Und eine funktionierende Verwaltung aus mehreren zu bilden. So etwas dauert Jahre. Wir sind da viele Schritte nach vorn gekommen. Es ist außerdem gut, dass wir das Schülerticket mittlerweile umsonst anbieten können. Wir können mehr an den Straßen machen. Wir haben keine Schulden mehr. Die Gemeinden können sich wirtschaftlich besser entwickeln. Die Museeumsarbeit ist vorangekommen. Unser Theater wurde auf solide Beine gestellt. Das alles ist aber nicht allein mein Verdienst. Ich wäre froh, wenn am Ende meiner Amtszeit die Zufriedenheit der Menschen größer ist als die Unzufriedenheit.
Hand auf Herz: Ist der Kampf gegen Corona die anstrengendste Zeit in Ihrer Laufbahn als Landrat?
Es ist schon eine gewisse Herausforderung. Es entstand eine Situation, die müssen wir lösen. Die anstrengendste Zeit war für mich aber eher, die Altkreise zusammenzuführen. Ich habe hier ein Team, auf das ich mich verlassen kann. Hier weiß jeder, was er zu tun hat. Wenn du so ein Team hast, dann schaffst du damit jedes Problem. Ich bin voll auf der Linie meiner Großmutter. Ihre Generation hat ganz andere Zeiten erlebt. Sie hat immer gesagt: „Mein Jung, heute kümmern wir uns um die Not von heute – und morgen um die von morgen“.