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Migranten in Not

Neubrandenburger Ärzte für Asylbewerber fehlen

Neubrandenburg / Lesedauer: 5 min

400 Asylsuchende sind in Neubrandenburg ohne Hausarzt, wenn eine landesweite Vereinbarung mit dem Medizinischen Versorgungszentrum zum Jahresende ausläuft.
Veröffentlicht:07.09.2022, 18:48

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Dreimal hat Matthias Träger einen Rundbrief an all seine Kollegen geschrieben: „Vor, während und nach den Ferien“, sagt der Neubrandenburger Orthopäde und Vorsitzende der Kreisstelle der Kassenärztlichen Vereinigung (KV). So kann niemand, egal wann er womöglich im Urlaub war, das dringende Anliegen verpasst haben: Händeringend werden Mitstreiter gesucht für die künftige hausärztliche Versorgung von Asylsuchenden. Doch die Resonanz war, wie es Träger gelinde ausdrückt, „mau“.

400 Menschen werden betreut

Bislang verfügt Neubrandenburg – landesweit einmalig – über eine Modellambulanz im zentral gelegenen Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) des Dietrich-Bonhoeffer-Klinikums. Rund 400 Asylsuchende werden hier betreut, mit akuten Beschwerden ebenso wie mit chronischem Behandlungsbedarf. Grundlage ist eine sogenannte Institutsermächtigung, erteilt durch einen Zulassungsausschuss der KV auf Landesebene für jeweils zwei Jahre.

Doch nachdem eine Kollegin in die Selbstständigkeit ging und ihre (Dreiviertel-)Stelle nicht nachbesetzt werden konnte, sind die personellen Ressourcen zu knapp, um die zum Jahresende auslaufende Vereinbarung fortzusetzen. „Da das ärztliche Personal fehlt, die Versorgung weiter aufrecht zu halten, kann sich das MVZ nicht um eine erneute Verlängerung bemühen“, verdeutlicht Prokuristin Anne Lösler.

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Es braucht mindestens sieben bis zwölf Ärzte

Wenn jede der 40 hausärztlichen Praxen in Neubrandenburg zehn Patienten übernähme, wäre die Herausforderung gleichmäßig verteilt. Doch befragte Kollegen signalisieren, selbst voll ausgelastet zu sein und keine neuen Patienten aufnehmen zu können – Zuzügler können ein trauriges Lied davon singen. „Mehr als ausgelastet“ sind indessen auch die Hausärzte im MVZ, das demzufolge nur einen überschaubaren Anteil der Asylbewerber übernehmen könnte.

Eine Alternative könnte ein Ärztepool an einem ausgelagerten Standort sein. So wie im Vorläuferstadium der Modellambulanz: Als nach der Ankunft zahlreicher Flüchtlinge 2015 vor allem die Hausarztpraxen nahe der Gemeinschaftsunterkunft in der Oststadt heillos überrannt wurden, war dort eine von verschiedenen Ärzten betreute Stelle eingerichtet worden. Diese Versorgung ging ein Jahr später in die Institutsermächtigung für das MVZ über.

„Es müssten sich mindestens sieben bis zwölf Ärzte oder Ärztinnen finden, die bereit sind, im Wechsel etwa zwei bis drei Sprechstunden von montags bis freitags abzudecken“, schildert Anne Lösler das mit der KV-Kreisstelle entwickelte Konzept. „Eine zentrale Anlaufstelle ist auf jeden Fall am besten“, findet auch KV-Kreischef Träger, der sich selbst zur Mitwirkung bereit erklärt. Ebenso drei Allgemeinmediziner und ein Chirurg – macht fünf. „Das ist zu wenig“, weiß der Orthopäde und hofft auf eine Vollversammlung am Donnerstag, um noch Mitstreiter zu motivieren.

Bereitschaftsdienste und Notaufnahme Leidtragende

Anderenfalls greift wie überall sonst ab Januar das Prinzip der freien Arztwahl – was letztlich bedeutet, überlaufene Praxen „abzuklappern“. Natürlich müssen akute Beschwerden umgehend behandelt werden. Als Patient aufgenommen zu werden, wird allerdings schwierig. Mit der erwartbaren Folge, dass viele Betroffene weiterhin zum MVZ kommen, das dieser Aufgabe jedoch nicht standhalten kann.

Und außerhalb gängiger Öffnungszeiten werde sich das Problem verlagern auf die jeweils diensthabenden Bereitschaftspraxen sowie auf die Notaufnahme, prophezeit Dr. Katja Schikora, die als Allgemeinmedizinerin und Pneumologin im MVZ praktiziert. Ihr Eindruck ist, dass momentan das Problem „ausgesessen“ werde, weil es noch nicht greifbar scheine. Doch das dürfte sich mit dem Jahreswechsel schlagartig ändern.

Aus Sicht der Kreisverwaltung, deren Sozialamt der Leistungsträger für die medizinische Versorgung von Asylsuchenden ist, kann das bisherige MVZ-Angebot „den Zugang für die Betroffenen erleichtern“. Hier gebe es „breite Erfahrung im Umgang mit migrationsspezifischen Besonderheiten (insbesondere Sprachbarrieren)“ und auch Erfahrungen im Umgang mit Erkrankungen, „die in Mitteleuropa gegebenenfalls selten, aber in den Herkunftsländern häufig sind“.

Nächste Woche muss es Gewissheit geben

Die Beschwerden indessen entsprechen durchaus dem Durchschnitt der deutschen Bevölkerung mit „Bluthochdruck, Diabetes und mal einer Infektion“, weiß Kirsten Küssner, Fachärztin für Innere Medizin und Arbeitsmedizin sowie für Öffentliches Gesundheitswesen. Schwieriger zu vermitteln sind oft chronische Krankheitsbilder bei Patienten, die einfach nur mit einem Medikament ihr Leiden behoben sehen wollen, oder diffuse Beschwerden, wenn einfach „alles wehtut“.

Auch die erlittene Flucht und Vertreibung erfordere erhöhte Sensibilität, und natürlich kosteten sprachliche Hürden mehr Zeit als bei deutschsprachigen Patienten. „Russisch kann ich, Englisch geht auch“, sagt Kirsten Küssner. Einen Dolmetscher allerdings habe „vielleicht einer von 100“ dabei; oft kämen Verwandte, Bekannte oder – besonders heikel – Kinder mit, oder die Übersetzung müsse per Telefon erfolgen. „Manche wären nicht hier, wenn sie einen Sprachkurs hätten und arbeiten dürften“, spricht die Medizinerin zudem den Einfluss von Einsamkeit, Fremdheit und erzwungener Untätigkeit an.

Mit der bisherigen Institutsermächtigung hat Neubrandenburg ein Alleinstellungsmerkmal, das kurze Wege und beständige Arztkontakte statt ständiger Wechsel ermöglicht. Die Gefährdung dieses Modells durch personelle Nöte könnte nur aufgefangen werden durch eine Verteilung der Patienten auf möglichst viele Praxen oder aber durch möglichst zahlreiche Mitwirkung in einem Ärzte-Pool mit zentraler Anlaufstelle. „Unsere einzige Möglichkeit ist es, erneut an die Kollegen zu appellieren“, sagt Matthias Träger. Bis nächste Woche müssen die Akteure Gewissheit haben, ob eine Anschlussregelung zu realisieren ist.

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