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Zahlreiche Tote

Warum über ein Zugunglück bei Neubrandenburg kaum etwas bekannt ist

Neddemin / Lesedauer: 4 min

Vor 75 Jahren kam es zu einem folgenreichen Zusammenstoß zweier Züge bei Neddemin. Obwohl es sich um eines der schwersten Zugunglücke im Nordosten handelt, ist darüber kaum etwas bekannt.
Veröffentlicht:09.02.2020, 08:00

Von:
  • Frank Wilhelm
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Die beiden Lokführer hatten am 4. Dezember 1945 keine Chance, den Zusammenstoß zu verhindern. Es war dunkel, als ihre Züge – der Personenzug 213 aus Neubrandenburg und ein sowjetischer Kommandantenzug aus Altentreptow – kurz nach 19 Uhr unweit des Dorfes Neddemin aufeinander zufuhren. Jede Lok war mit etwa 50 Stundenkilometern unterwegs. Hinzu kamen trübes Wetter und eine leichte Kurve, die die Sicht erschwerten.

Die Lokführer Rudolf Stuhr (41) und Rudolf Waack (52) sowie ihre Lokheizer Erich Kruse (39) und Johannes Tunk (33) – alle Männer kamen aus Neustrelitz – haben die entgegenkommenden Lichter wohl erst im letzten Moment gesehen. Sie konnten erst am darauffolgenden Tag mit Hilfe von Schneidbrennern aus den zerstörten Führerständen geborgen werden.

Insgesamt kamen bei dem Zusammenstoß des Personenzuges und des Kommandantenzuges zwischen 31 und 55 Menschen ums Leben. Die Zahl der Toten ist bis heute unklar, schreibt der Historiker Dr. Joachim Braun, der das Unglück im Magazin „EisenbahnGeschichte“ (01/2020) aufgearbeitet hat.

Technisches und menschliches Versagen

Aber warum ist eines der schlimmsten Eisenbahnunglücke im Nordosten fast in Vergessenheit geraten? Eleonore Wolf, Leiterin des Stadtarchivs Neubrandenburg, weiß von dem Unglück, dank der Aufzeichnungen des verstorbenen Eisenbahn-Experten Werner Lexow. Die Besatzungsmacht habe Unfälle immer dann möglichst geheim gehalten, wenn ihre Soldaten und Offiziere involviert waren. „Da wurde massiv Druck ausgeübt“, sagt Eleonore Wolf. Die an dem Eisenbahnunglück bei Neddemin beteiligten sowjetischen Uniformierten kamen von der Jagd und befanden sich in dem Waggon des Kommandantenzuges.

Das Ereignis ist auch weitestgehend unbekannt, weil es seinerzeit bis auf die Landeszeitung kaum Medien gab. Fotos von dem Unglück sind bislang nicht aufgetaucht.

Aber wie konnte es überhaupt zu dem Unglück kommen? Autor Braun beschreibt den Zusammenstoß auf der eingleisigen Strecke als Resultat einer Mischung technischer Unzulänglichkeiten und menschlichen Versagens. Nach dem Krieg waren der Bahnhofs- und Streckenblock – also die Signale zur Sperrung einzelner Streckenabschnitte – defekt. „Zur Sicherung der Zugfahrten waren lediglich eine Zugmeldeleitung und die Telefonverbindung zwischen den Stellwerken vorhanden.“

Zwei Züge gleichzeitig auf der eingleisigen Strecke

Fahrdienstleiter Willi Schmidt, Telefonistin Erika Hübner und Stellwerksmeister Hermann Storbeck, die Diensthabenden im Stellwerk, waren an dem Abend im Stress: Der Personenzug 213 Richtung Stralsund wartete auf die Freigabe. Auch der Zugführer eines Güterzugs nach Pasewalk drängte. Hinzu kamen drei russische Soldaten, die wissen wollten, wann der Kommandantenzug ankommt.

Fakt ist, dass sich dieser Zug bereits auf der Strecke befand, als sich der Personenzug 213 in Bewegung setzte. Durch einen Zeugen sind Schmidts erschrockene Worte auf dem Stellwerk überliefert: „Wer hat 213 Ausfahrt gegeben, ich habe doch den Kommandantenzug angenommen.“ Das Unheil war nicht mehr zu verhindern.

Es dauerte Stunden, ehe nach dem Zusammenstoß um 19.05 Uhr Hilfe am Unglücksort eintraf. Um 19.50 Uhr wurden die Rettungskräfte alarmiert. Eine Stunde später traf der Hilfszug aus Neubrandenburg mit einem Arzt und Sanitätern ein, zugleich eilten weitere Ärzte und Schwestern mit Krankenwagen und Feuerwehrfahrzeugen zu Hilfe. Auch die Rote Armee beteiligte sich. Am 5. Dezember meldete die Reichsbahndirektion Greifswald: „Die Zahl der Toten hat sich auf 55 erhöht, 30 Schwer-, 30 Leichtverletzte, 2 Russen leicht verletzt.“ Zwei Tage später lautete die Angabe 38 Tote und 68 Verletzte. Der Standesbeamte in Neddemin beurkundete für den 4. Dezember 1945 den Tod von 31 Menschen, darunter vier Kinder.

Die Schäden an den Loks, den Waggons und an 150 Meter Gleis waren enorm. Die Lok Nr. 381605, die den Kommandantenzug geschleppt hatte, konnte repariert werden und fuhr noch bis 1968 für die Reichsbahn. Fatal endete das Unglück für die Besatzung des Stellwerks: Fahrdienstleiter Willi Schmidt und Telefonistin Erika Hübner wurden von einem Sowjetischen Militärtribunal (SMT) zu jeweils zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt, der Weichenwärter Ernst Rickert zu sieben Jahren.

Willi Schmidt war zunächst im NKWD-Sonderlager Fünfeichen in Neubrandenburg interniert, später kam er ins SMT-Lager Sachsenhausen, wo er am 7. April 1947 an Unterernährung starb. Ernst Rickert starb Anfang Februar 1947 ebenfalls in Sachsenhausen. Erika Hübner wurde nach einem von ihrem Schwager, einem Rechtsanwalt, angestrengten Berufungsverfahren am 1. März 1947 entlassen.