Von der Domjüch bis nach Auschwitz

Neuer Roman aus Sicht einer KZ-Aufseherin

Neustrelitz / Lesedauer: 6 min

In ihrem neuen Roman „Die Aufseherin“ forscht Cornelia Lotter dem Leben einer Neustrelitzerin von der Landesirrenanstalt Domjüch über die Konzentrationslager Ravensbrück und Majdanek bis nach Auschwitz nach. Es ist nicht ihr erstes Buch mit Handlungsorten in Mecklenburg-Vorpommern.
Veröffentlicht:09.01.2021, 19:05

Von:
  • Susanne Schulz
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In Leipzig zu Hause, siedeln Sie den Ausgangspunkt Ihres neuen Buches in Neustrelitz und Fürstenberg an. Und wie dem Nachwort zu entnehmen ist, kam von hier auch die Anregung zu dem Roman über eine KZ-Aufseherin?

Ja, durch Reinhard Simon, den ich voriges Jahr auf der Leipziger Buchmesse kennenlernte, nach einer Lesung aus meinem Euthanasie-Roman „Birkensommer“. Er erzählte mir von seinen Recherchen zur NS-Zeit und machte mich auf die interessante Geschichte der Charlotte Mayer aufmerksam. Damals winkte ich erst mal ab, weil es für mich nicht in Frage kam, einen Roman über ein solches Thema aus Sicht einer Täterin zu schreiben. Aber als in den vergangenen Monaten andere Recherchen stockten, weil ich wegen Corona nicht in Archive kam, packte mich die Geschichte wieder. Mir ist es immer wichtig zu erkunden, wie jemand zu dem Menschen wurde, der er ist. In Krimis und Thrillern wird ja oft die Täter-Perspektive eingenommen, warum nicht auch in einem zeitgeschichtlichen Roman? Niemand ist ja per se schlecht.

Also schildern Sie Ihre Romanfigur Lotte Müller als eine Frau mit prekärem familiären Hintergrund, die den gewalttätigen Sadismus anderer Aufseherinnen nicht mitmacht und versucht, Häftlingen – darunter solche, die sie aus ihrer Heimat kennt – das Leben leichter zu machen. Wie viel von ihrer Geschichte ist authentisch und wie viel Fiktion?

Die reale Charlotte Mayer kenne ich nur aus den Gerichtsakten und dem wenigen, was über sie im Netz zu finden ist. Ein Bild von ihr machen, konnte ich mir nur durch ihre eigenen Auskünfte und die Zeugenaussagen von Häftlingen vor Gericht, nach den Prozessen hat sie jede weitere Äußerung dazu verweigert. Alles, was in meinem Roman in Lotte vorgeht, ist jedoch Fiktion. Für mich führte über die Kindheit der Weg, Leser an die Figur heran zu führen. Wenn ich ein Mädchen schildere, das in schwierigen Verhältnissen aufwächst, könnte das bewirken, diese Person nicht gleich in Bausch und Bogen zu verdammen.

Waren Sie dennoch, eingedenk Ihrer eigenen anfänglichen Vorbehalte, in Sorge um die Reaktionen der Leser?

Darüber war ich mir tatsächlich sehr unsicher. Mut machte mir Reinhard Simon, der als Einziger das Buch vor der Veröffentlichung gelesen hat. Trotzdem bin ich total überrascht von den positiven Reaktionen und Verkaufszahlen.

Zeitgeschichtliche Stoffe, vor allem aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, nehmen in Ihrem Wirken großen Raum ein. Was führte dazu, dass Sie sich gerade diesem Thema zuwandten?

Das begann vor vielen Jahren damit, dass ich im „Spiegel“ einen Artikel über Lynchjustiz an abgeschossenen alliierten Fliegern in der Nähe meiner thüringischen Heimat las. Ich habe das Glück, in einer interessanten Familie aufgewachsen zu sein. Mein Urgroßvater schrieb die Dorfchronik und vieles andere, erforschte Geschichte bis zurück ins 19. Jahrhundert. Einiges daraus habe ich mit den Geschehnissen zum Ende des Zweiten Weltkrieges und auch Kindheitserinnerungen meiner Eltern verwoben zu „Abgeschossen“, meinem ersten Roman über die NS-Zeit. Der zweite entstand ganz zufällig, nachdem ich mit einem gehbehinderten alten Mann ins Gespräch kam, dem ich in der Sparkasse die Tür aufgehalten hatte. Wie sich herausstellte, war er Wehrmachtsfunker gewesen und hatte viele Geschichten zu erzählen. Zum Beispiel, dass er sich auf Korsika in eine Frau verliebte, die zur Widerstandsbewegung Maquis gehörte. Daraus wurde, verbunden mit einer Gegenwartsebene, „Die Geliebte des Funkers“. Danach trat das Thema erst mal in den Hintergrund, erst mit „Birkensommer“ habe ich mich ihm wieder endgültig zugewandt.

Zugleich weist Ihre Bibliografie eine erstaunliche Spannweite auf, von Erfahrungsberichten über Liebesromane bis zu Krimis. Wie kommt das?

Weil mich so wahnsinnig viele Dinge interessieren! Angefangen habe ich mit Lyrik und Kurzgeschichten, Romane schreibe ich erst seit der Jahrtausendwende. Oft gab es einen Auslöser, bei den Leipzig-Krimis zum Beispiel auf einem Spaziergang, als ich an einer Fabrikruine vorbei kam. Da dachte ich: Das könnte ein Ort sein, an dem sich eine Detektivin vor ihren Verfolgern versteckt! Beim Kannibalen-Thriller war der Auslöser ein Zeitungsbeitrag über einen realen Fall, auf das spannende Thema „falsche Erinnerungen“ wurde ich aufmerksam, als mir jemand privat von Menschen mit solchen Erfahrungen erzählte, und auf dem Weg zu meinem Badesee in Markkleeberg brachte mich eine Villa mit einem verwilderten Garten auf die Idee zu einem SmartHome-Thriller. Die Themen liegen auf der Straße!

Und wie arbeiten Sie? An mehreren Büchern gleichzeitig?

Nein, strikt eins nach dem anderen. Ich muss mich fokussieren, auch wenn oft schon der nächste Stoff „anklopft“. Dessen Zeit kommt schon noch!

Wie hat sich dabei das Corona-Jahr ausgewirkt?

Als Single bin ich in dieser Zeit in besonderem Maße von sozialen Kontakten abgeschnitten. Aber ich habe viel geschrieben. Dieser Tage geht ein neues Buch in den Satz, und gedanklich beschäftigt mich schon das nächste, das voraussichtlich eine Novelle wird. Auch finanziell war 2020 mein bisher erfolgreichstes Jahr.

Weil viele Menschen in diesen Zeiten mehr lesen?

Ja, und was mich besonders überrascht und freut: Sie lesen auch mehr über so ernste Themen. Auch meine älteren Bücher werden gerade wieder mehr gekauft.

Auch davon haben zwei bereits Schauplätze in Mecklenburg-Vorpommern: Der unter dem Pseudonym Natascha Schwarz veröffentlichte Roman „Im Schatten der Vergangenheit“ spielt auf einem mecklenburgischen Schloss, „Das Monster am Meer“ in Prora ...

... genau, und außerdem gibt es in der Leipzig-Reihe noch „Luftgrab“, wo die Ermittler im Urlaub am Kap Arkona über eine Leiche stolpern!

Haben Sie also eine besondere Beziehung zu MV?

Für mich als Kind der DDR gehört die Ostsee natürlich zu den bevorzugten Reisezielen. Den Schauplatz von „Im Schatten der Vergangenheit“ wählte ich, weil ich sehr interessant fand, dass dieses Schloss zu DDR-Zeiten ein Heim für afrikanische Kinder war, die dort zum revolutionären Nachwuchs ihrer Heimat erzogen wurden. Und als ich „Sand“ von Wolfgang Herrndorf las, faszinierte mich daran besonders, dass die Wüste die Hauptrolle spielt. So etwas wollte ich auch mal schreiben: einen Roman, in dem nicht ein Mensch der Hauptdarsteller ist. Dazu fiel mir der Koloss von Prora ein. Dort war ich vorher nie, habe mir dann aber alles angeguckt. Seither bin ich fast jedes Jahr dort, zuletzt 2019 zur Rügener Buchmesse. Und ich hoffe, ich kann bald wieder dorthin!