Interview
„Schauspielerei ist immer kulturelle Aneignung“
Neustrelitz / Lesedauer: 8 min

Susanne Schulz
Ihre erste Saison in Neustrelitz/Neubrandenburg hat spritzig begonnen mit der Open-Air-Komödie „Stolz und Vorurteil* (* oder so)“ unter Regie von Anne-Kathrin Gummich, in der zwei tog–Schauspielerinnen zusammen mit drei Schauspiel-Studentinnen die Bühne rocken. Wie finden Sie diesen Start?
Großartig. Ich freue mich, dass die Inszenierung so gut ankommt. Das spricht sich herum, wie wir am Kartenverkauf für die nächsten Vorstellungen sehen. Aufgegangen ist auch, was wir uns von der Kooperation mit der Schauspielhochschule „Ernst Busch“ erhofften. Nach dem Jubel sind wir aber auch gleich wieder im Alltagsgeschäft. Gerade stecken wir in den Proben für unsere nächsten Premieren „Nachtschwärmer (Christmas)“, „Merlin oder Das wüste Land“ und „Die Känguru–Chroniken“.
Sie sind gebürtiger Mecklenburger und nach vielen freiberuflichen Erfahrungen in Ost und West nun erstmals im Nordosten unter Vertrag. Wie halten Sie's mit dem großen Wort Identität?
Mir fällt auf, dass ich hier in Neustrelitz kein bisschen fremdle mit der Stadt, der Gegend, den Menschen. Wer sich fragt, ob die Ost–West–Frage noch 'ne Rolle spielt, sollte „Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ von Dirk Oschmann lesen. Dass Menschen hier anders leben und denken als in Nordrhein–Westfalen oder Baden–Württemberg, hat mit ihrer Geschichte zu tun. Zur Wende–Zeit war ich zwölf, bin aber mit bestimmten Werten aufgewachsen. Klar ist das hier wie ein Nach–Hause–Kommen.
Als Sie als neuer Schauspieldirektor vorgestellt wurden, sprachen Sie von der Vorfreude auf die Verantwortung dieses Amtes. Obwohl es Ihnen neben eigener Regie-Arbeit auch viele administrative Aufgaben einträgt?
Absolut, die Freude ist immer noch groß. Ich möchte Impulse ins Haus tragen durch Dinge, die mir in 20 Jahren als Freiberufler als verbesserbar aufgefallen sind. Es wird in kürzeren Abständen Ensembleversammlungen geben, um darüber zu reden, warum wir Dinge so machen, wie wir sie machen. Kommunikation ist mir total wichtig, ich sehe mich als Teamplayer. Außerdem möchte ich die Abläufe so ändern, dass wir ein neues Stück sieben Wochen proben können und nicht nur fünf. Bei der Besetzung werde ich darauf achten, gerade bei großen Rollen wie der Sally Bowles nächsten Sommer in „Cabaret“ Raum zur Vorbereitung zu lassen. Und in die Vorweihnachtszeit, wenn mehrere Vorstellungen pro Tag spielen, werden wir nicht auch noch eine Premiere packen.

Das ist Maik Priebe
Maik Priebe, geboren 1977 in Schwerin, studierte Regie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Als prägend nennt er Begegnungen mit Theatermachern wie Ingo Waszerka, Manfred Karge, Peter Zadek, Christoph Marthaler, Christoph Schlingensief, Angelika Waller. Er inszenierte unter anderem am Staatstheater Kassel, Deutschen Nationaltheater Weimar, neuen theater Halle und Wiener Burgtheater, ist zudem künstlerischer Leiter des Leipziger „kollektiv WEGWOHIN“. Für seine Regie-Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet.
Hoher Produktionsdruck und kurze Probenphasen belasten die Theaterbranche in zunehmendem Maße. In der hiesigen aktuellen Situation erst recht, weil in kurzer Zeit neues Repertoire aufgebaut werden muss, nachdem die Inszenierungen der vergangenen Spielzeit nicht übernommen wurden?
Die Sache ist komplexer. Wir übernehmen zum Beispiel beide Weihnachtsmärchen sowie die Klassenzimmerstücke. Ich hätte mir noch die eine oder andere Produktion mehr gewünscht. Wir haben lange darum gekämpft, „Über Menschen“ wieder aufzunehmen, aber die Abstimmung kamen terminlich einfach nicht zum Erfolg. Auch das Budget setzt Grenzen, wenn mehrere Mitwirkende, die nicht mehr dem Ensemble angehören, als Gäste honoriert werden müssten.
Wie erleben Sie das aktuelle Ensemble, das bis auf zwei Abschiede und zwei Neuverpflichtungen stabil geblieben ist?
Erst mal als sehr interessiert und neugierig. Natürlich auch mit ein bisschen Angst vor Veränderung. Ich habe eine andere Biografie, andere Erfahrungen, gehöre einer anderen Generation an als meine Vorgängerin. Wir wollen mit Lust und Freude Kunst machen — das klingt so elitär, daher: Geschichten erzählen, mit denen wir die Menschen berühren, auch mal verstören, zum Nachdenken bringen.
Der Spielplan trägt eine bemerkenswert moderne Handschrift, fast durchweg aus dem 20. und 21. Jahrhundert – frei von gängigen strategischen Überlegungen à la „was für die Schulen, was für Klassik-Fans, was Zeitgenössisches“?
Es war in jedem Fall eine Entscheidung für das jeweilige Stück, nicht nach Strategie. Es ist immer schwierig, eine Inszenierung für ein bestimmtes Publikum zu machen. Die schlimmsten Aufführungen für Schüler sind zum Beispiel oft die, die ausdrücklich für Schüler gemacht sind. Junge Leute haben vielleicht mehr von „Merlin oder Das wüste Land“ als von „Kabale und Liebe“. Die „Känguru–Chroniken“ sprechen sowieso alle an. „Nachtschwärmer“ ist als feines Psychospiel für fünf Männer eine Art Gegenentwurf zu den fünf Dienstmädchen in „Stolz und Vorurteil“, und natürlich brauchen wir auch wunderbare Komödien die „Die Affäre Rue de Lourcine“ und „Alle meine Männer“.
Das sind die Premieren
Für seine erste Saison als Schauspieldirektor der Theater und Orchestergesellschaft Neustrelitz/Neubrandenburg plant er die Premieren
- „Nachtschwärmer (Christmas)“ von Simon Stephens (22. 9., Neubrandenburg),
- „Merlin oder Das wüste Land“ von Tankred Dorst und Ursula Ehler (29. 9., Neustrelitz),
- „Die Känguru-Chroniken“ von Marc Uwe Kling (12. 10., Neubrandenburg),
- „Die Affäre Rue de Lourcine“ von Eugène Labiche (10. 11., Neubrandenburg),
- „Glaube Liebe Hoffnung“ von Ödön von Horváth und Lukas Kristl (16. 2., Neustrelitz),
- „Alle meine Männer“ von Ray Cooney (22. 3., Neubrandenburg) und
- „Cabaret“ (7. 6., Neubrandenburg).
Koch-Talks „Wir bitten zu Tisch“ gibt es zunächst mit Harald Schmidt (1. 10.) und Angelika Milster (31. 3.).
Zur Veranstaltungsreihe zu Uwe Johnson gehören der Dokumentarfilm „Gehen und Bleiben“ von Volker Koepp (15. 9., Alte Kachelofenfabrik Neustrelitz) Lesungen mit Charly Hübner und Caren Miosga (19. 12., Landestheater), Nina Gummich und Robert Will (23. 2., Schauspielhaus), die Filme „Jahrestage“ von Margarethe von Trotta (2./3. 3.) und „Fuer Zwecke der brutalen Verstaendigung“ von Maik Priebe (10. 3., Alte Kachelofenfabrik) sowie Lesungen mit Jutta Wachowiak und Mitgliedern des Schauspielensembles (17. 3.), Nicole Heesters und Burkhard Wolf (24. 3., Landestheater).
Mit der auf historischen Mythen beruhenden Gesellschaftsutopie „Merlin oder Das wüste Land“ geben Sie Ende September erstmals Ihre Visitenkarte als Regisseur an der tog ab. Wie ist Ihnen da zumute?
Darüber darf ich gar nicht nachdenken, sonst gehe ich nicht mehr zur Probe (lacht). Das ist schon was anderes als eine Gast–Regie als Freiberufler. Aber eigentlich muss ich mir keine Gedanken machen. Der Stoff ist toll, Kostüme und Bühne von Susanne Maier–Staufen sind grandios, Nils Ostendorf macht einen spektakulären Sound und bei den Kampfchoreografien von Thomas Ziesch gibt's richtig Alarm. Das wird also was für Auge und Ohr.
Neben dem Bühnenrepertoire widmen Sie eine eigene Reihe dem Schriftsteller Uwe Johnson, den Sie als Ihren Lieblingsautor nennen, und bieten bei Lesungen und Filmen eine Vielzahl prominenter Mitwirkender auf. Was macht diese Literatur und diese Gäste so besonders?
Das ist wirklich eine große Leidenschaft. Ich halte Uwe Johnson für den bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, mehr noch als Günter Grass oder Heinrich Böll. Mich fasziniert dieser Kosmos, den er erfunden hat um seine Figur Gesine Cresspahl, mit Querverbindungen in all seine Bücher, und wie atmosphärisch er beschreibt, dass und warum die Bundesrepublik und die DDR zwei so unterschiedliche Staaten waren. Es passt gut, nächstes Jahr seinen 90. Geburtstag und 40. Todestag zu würdigen. Mit so bekannten Namen nicht weil ich promi–verliebt bin, aber ich kann mir vorstellen, dass bei Jutta Wachowiak, Nicole Heesters oder Charly Hübner und Caren Miosga zwei–, dreimal so viele Menschen zuhören kommen als „nur“ bei Schauspielern aus dem eigenen Ensemble. Literatur sichtbar zu machen, die nicht jeder aufm Schirm hat, wird uns übrigens mit anderen Autoren auch weiterhin begleiten.
„Wir bitten zu Tisch“ heißt eine weitere Reihe, in der Sie zusammen mit einem Gast auf der Bühne kochen und plaudern, zum Auftakt am 1. Oktober mit Harald Schmidt – so wie einst Alfred Biolek?
Ja, das wird so ein Biolek-Moment. Ein Impuls war, mit so einem Extra-Format Menschen ins Theater zu locken, die sonst nicht ins Theater gehen. Ich koche gern, ich esse gern, und ich habe die Erfahrung gemacht, dass Kochen ein wahnsinnig kommunikativer Vorgang ist. Innerhalb weniger Tage konnten wir eine wunderbare Küche beschaffen, und auch Harald Schmidt hat erfreulich schnell zugesagt. Wir werden also am Herd über seine Karriere reden und möglichst auch über sein Engagement für die Deutsche Depressionshilfe.
Müssen Sie auch vor seinem bissigen Humor warnen, so wie alte Otto-Sketche neuerdings in der WDR-Mediathek mit einem Hinweis versehen sind auf „Passagen, die heute als diskriminierend betrachtet werden“?
Bei alten Schmidteinander-Folgen gab es diesen Hinweis ebenfalls, und Harald Schmidt sagt, das sei das Beste, was ihm passieren konnte. Ich habe keine Hemmungen, auch über solche Erscheinungen zu diskutieren. Schauspielerei ist immer kulturelle Aneignung. Wenn Theater politisch korrekt ist, kann man's zumachen. Wir müssen frauenfeindliche oder homophobe Figuren so frauenfeindlich und homophob zeigen, wie sie sind, sogar noch stärker, damit es alle merken. Darauf zu verzichten, fände ich hochgradig gefährlich fürs Theater.