Erinnerungen
Familie hat zwei Mal alles verloren
Strasburg / Lesedauer: 6 min

Gastbeitrag
Das Schicksal der Menschen, die jetzt vor dem Krieg in der Ukraine flüchten, bewegt auch den einstigen Strasbruger Dirk Wieczorek, der heute in Greifswald lebt. Er hat für den Nordkurier aufgeschrieben, wie stark Krieg, Flucht und Vertreibung seine Familiengeschichte geprägt haben:
Mein Urgroßvater Samuel wurde am 24. August 1887 geboren. Er heiratete meine Urgroßmutter am 30. November 1911. In dieser Ehe wurden Elly – meine Großmutter – und ihre Schwester Erna geboren. Samuel musste mit 27 Jahren in den Ersten Weltkrieg ziehen – also gleich zu Beginn desselben. Er fiel am 22. Juli 1917 in Kraków (Russland). Ob meine Großmutter ihren Vater je richtig kennenlernen konnte, ist ungewiss. Niemand weiß genau, was mit ihm passiert ist. Sicher scheint, wo und wann er gefallen und wo er bestattet ist. Wie er seine letzten Tage verbracht, was er gefühlt, zuletzt gedacht oder getan hat – niemand wird es je erfahren. Allein die Seitenzahl (20.336!) der „Deutschen Verlustliste“ vom 30. August 1917, auf der er zu finden ist, lässt erahnen, welches Leid der Erste Weltkrieg bereits bis dahin mit sich gebracht hatte.
Nach Erstem Weltkrieg zwei Mal zu Umzug nach Deutschland gezwungen
Leid, das sich mit Beginn des Zweiten Weltkrieges fortsetzte und endlich 1945 ein Ende – zumindest hier in Deutschland und den umliegenden Ländern – fand. Auf der Feldpostkarte, die Samuel am 27. Februar 1915 an seine Schwiegereltern schickte, müsste er mit abgebildet sein. Leider weiß niemand, welcher von den jungen Männern er ist, die dort so ernst in die Kamera blickten. Weitere Fotos sind nicht zu finden. Unglaublich viele Menschen hatten den Verlust von Angehörigen zu beklagen, und es gab sicher kaum eine Familie, die noch wirklich vollständig war.
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Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges vertrieben, ging die Familie zwischen 1918 und 1920 nach Wilhelmshaven. Von dort kehrte sie nach Plönzig (heute Płońsko Pyrzyckie nahe Szczecin) zurück und lebte hier bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Zitat aus der Lebensgeschichte meiner Vorfahren: „Als nach dem Ersten Weltkrieg die Provinz Posen polnisch wurde, musste die liebgewordene Heimat (um 1922) verlassen und mit den Eltern zusammen zum zweiten Mal nach Deutschland gezogen werden. Durch die Inflation verarmt, ging es durch manch schwierige Verhältnisse. Nach vierjährigem Aufenthalt bei Verwandten in Pommern (hier könnte schon Plönzig gemeint sein – d. Autor) konnte das neuerbaute Haus bezogen werden.“
Große Not konnte dem Lebensmut nichts anhaben
Dort in Plönzig lernten sich meine Großeltern kennen, dort wurden vier Kinder – unter anderem meine Mutter – geboren. Unsere Vorfahren waren nicht kleinzukriegen. Selbst die oft große Not und mehrfache Vertreibung konnten dem Fleiß und dem Lebensmut dieser einfachen Menschen nichts anhaben. So findet man in der „Pommerndatenbank“ (Datenbank für Familienforschung in Pommern) unter der Rubrik „Adressbuch der Provinz Pommern“ immerhin auch meinen Großvater Gustav.
Er wurde mit 37 Jahren, am 4. März 1941, zur Wehrmacht eingezogen, im Zweiten Weltkrieg und auch in der Ukraine eingesetzt. Eine Malariaerkrankung sorgte schließlich dafür, dass er bei Ersatztruppen verblieb und nicht in russische, sondern „nur“ in britische Kriegsgefangenschaft geriet. Er kehrte Mitte 1945 schwer erkrankt zurück.
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Nachdem sich die Familie wiedergefunden hatte, begann sie in Köhnshof bei Strasburg ein neues Leben auf Bodenreformland. Erneut hatte also ein Krieg dafür gesorgt, dass die Familie ihr gesamtes Eigentum verloren hatte und sie anderswo neu beginnen musste. In Köhnshof wohnten sie bis etwa 1955 in einem kleinen Reihenhaus, zusammen mit fünf weiteren Familien. Später erfolgte eine Verlosung der „Neubauernstellen“, ab dann gehörte der Familie eine Haushälfte des Gutshauses allein.
Ich werde meine Großmutter als einen lieben und fröhlichen Menschen in Erinnerung behalten. Trotz der erlittenen Verluste sah sie das Schicksal immer als gegeben und ohne Groll an – fern von Rachegedanken.
Wunsch, dass die Menschheit endlich vernünftig wird
Keiner meiner beiden Vorfahren ist freiwillig in einen Krieg gezogen, sie wurden Opfer von Habgier, Machtdünkel oder schlechtem Idealismus. Betrachte ich Fotos aus den Anfangstagen der beiden Weltkriege, fällt mir eines auf: Man sieht in vielen Orten stolze Eltern und Ehefrauen, die ihre Söhne zum Bahnhof bringen und freudestrahlend verabschieden, um diese „als Held in den Krieg zu schicken“. Solche Fotos kann man dann in den folgenden Kriegsjahren nur noch suchen.
Nach der Wende wurde mir oft vorgehalten, warum ich als Wehrpflichtiger, nicht als Freiwilliger bei der NVA gedient habe und mich auch sonst nicht dagegen zur Wehr gesetzt habe. Heute ist es ja offensichtlich wieder schick, für eine „starke Wehrkraft“ zu reden. Dem kann ich nur entgegenhalten: Meine Erfahrung aus der Wehrdienstzeit ist eine andere. Nämlich die, dass Krieg und Aufrüstung zumeist nur diejenigen gut finden, die nicht selbst in denselben ziehen müssen! Für meinen damaligen Jahrgang bei der Armee – es war kein Wehrpflichtiger dabei, der gerne dort war – stand fest, dass niemand von uns in irgendwelche Schlachten ziehen würde. Ob wir dies hätten verhindern können, wenn es wirklich zum Krieg zwischen Ost und West gekommen wäre? Wohl kaum, denn wer hat jemals den einfachen Soldaten gefragt?
Ich wünsche mir, dass die Menschheit endlich vernünftig wird. Auf der Welt herrschen Not, Hunger, Krieg und Vertreibung. Und wir, denen es gut geht, ignorieren dies zumeist. So war es immer, bis es uns eines Tages wieder selbst trifft! „Die Menschheit hat den Verstand verloren“, schrieb Astrid Lindgren, die sicher nicht nur mich mit „Pippi Langstrumpf“ und „Wir Kinder aus Bullerbü“ verzaubert hat, zwischen 1939 und 1945 in ihr Tagebuch. Und sie hatte recht, damals wie heute ist dies die einzig richtige Beschreibung. Wie können wir immer noch glauben, dass Kriege jemals zu gewinnen sind und dass sie uns selbst verschonen?