Prozess
Junger Schleuser profitiert von Ermittlungspannen
Pasewalk / Lesedauer: 4 min

Thomas Beigang
Seinen 27. Geburtstag Ende Juni muss der Angeklagte nicht hinter Gittern „feiern“. Die zwei Justizwachtmeister aus dem Neustrelitzer Gefängnis schließen am späten Nachmittag die Fußfesseln auf, die der junge Mann während der Verhandlung im Pasewalker Amtsgericht tragen musste. Gerade hatte das Gericht unter Vorsitz des Richters Gerald Fleckenstein den Haftbefehl aufgehoben.
Immerhin — seit Mitte Dezember saß der 26–Jährige in Untersuchungshaft wegen des Verdachts des Einschleusens von Ausländern nach Deutschland. Zweimal soll er im Oktober mit seinem Audi an der polnisch–weißrussischen Grenze gewesen sein, um Ägypter und Syrer illegal nach Deutschland zu bringen.
Richter muss mit einem Taschentuch aushelfen
Mit dabei im Gerichtssaal sind auch die junge Ehefrau des Delinquenten und dessen Mutter. Beide halten sich stundenlang an den Händen. Und als sich in einer Verhandlungspause alle drei umarmen dürfen, fließen viele Tränen. Die sechs Monate in deutscher Untersuchungshaft haben Spuren hinterlassen. Für die Familie und für den seit vier Jahren in Szczecin lebenden Ukrainer.
Dem muss Richter Fleckenstein zwischendurch sogar mit einem Papiertaschentuch aushelfen, der Kummer und die Angst werden gerade wieder übermächtig. Der Angeklagte gesteht eine Schleusung. Eigentlich sollte er, so sagt der Taxifahrer aus Szczecin, die Familie eines bekannten Fahrgastes aus dem ostpolnischen Bialystok abholen. Eine Schwarzfahrt sozusagen, die gut vergütet werden sollte.
Kurz vor Weihnachten klickten die Handschellen
Dann, an der weißrussischen Grenze, hieß es plötzlich, die Familie habe es nicht geschafft, dafür solle er vier andere Personen mitnehmen. 500 Euro für jeden, so das Versprechen. Das Geld floss nie, er will nur 200 Euro von den Fahrgästen erhalten haben, sagt er. Kurz hinter der deutschen Grenze setzte er seine Passagiere ab und fuhr zurück nach Polen.
Ein paar Tage später, so der Vorwurf, sollen es fünf Männer aus Ägypten gewesen sein, zwei von denen seien über fast 1000 Kilometer im Kofferraum versteckt gewesen. Die Ermittlungen der Bundespolizei fokussierten sich auf den Ukrainer aus Szczecin, Zeugenaussagen, die Auswertung von Handydaten und Fotos des Fahrzeugs ließen wohl darauf schließen. Das Pasewalker Amtsgericht erließ einen Haftbefehl und als der junge Mann wenige Tage vor Weihnachten nach Deutschland einreiste, mittlerweile hatte er hier einen Job, klickten die Handschellen.
Wo ist die Narbe?
Mit der zweiten Schleusung, wehrt sich der Angeklagte, habe er aber nichts zu tun, nichts aus der Anklage sei wahr. Und auch sein Rechtsanwalt Tomas Kuszynski aus Frankfurt/Oder muss sich doch sehr wundern über die Ermittlungsarbeit der Bundespolizisten in Pasewalk. So hätten die Beamten den Eingeschleusten ein Foto des Angeklagten vorgelegt, auf dem der Angeklagte erkannt wurde. Allerdings, will man alles richtig machen, müssen bei einer sogenannten Wahllichtbildvorlage den Zeugen acht Bilder vorgelegt werden, darunter das Bild des Verdächtigen, mit der Aufforderung, zu jedem Bild mitzuteilen, ob der Täter wiedererkannt wird. Die Anzahl der Vergleichsbilder muss ausreichend groß sein, um das Risiko einer zufälligen Identifikation zu senken, verlangte schon vor Jahren der Bundesgerichtshof.
Die Vorlage nur eines Fotos sei eine „Notlösung“ gewesen, so ein Hauptkommissar, „auf die Schnelle habe es keine andere Möglichkeit gegeben“. Die befragten illegal Eingereisten beschrieben allerdings ihren Schleuser als dick, mit Glatze und Bart. Der Angeklagte ist sehr schlank, trägt volles Haar und ist glatt rasiert. Außerdem erinnerten sich alle an eine dicke Narbe am rechten Unterarm des Schleusers. Richter Fleckenstein lässt den Angeklagten die Ärmel hochkrempeln. Keine Narbe.
Gericht folgt dem Antrag der Verteidigung
Staatsanwalt Toralf Günther streicht den zweiten Anklagepunkt, der wäre nicht zu beweisen und plädiert für eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten für die erste Tat. Wegen der schon lange verbüßten Untersuchungshaft, dem reuevollen Geständnis und der guten Sozialprognose möge des Gericht die Strafe zur Bewährung aussetzen.
Der Verteidiger bittet um eine Strafe nicht länger als ein Jahr — und so fällt auch das Urteil des Gerichts aus. Vier Jahre lang soll die Bewährung andauern. Richter Fleckenstein kommt auch nicht umhin, die Ermittlungsarbeit zu kritisieren und spricht von „nur selektiver Würdigung“ der wenigen Indizien.
Mutter und Ehefrau schließen den von seinen Fußfesseln befreiten jungen Mann in ihre Arme. Dafür müssen sie nun niemanden mehr um Erlaubnis bitten.