Erinnerung an Krieg

So hat dieser Mann als Kind die Flucht erlebt

Pasewalk / Lesedauer: 6 min

Der Krieg in der Ukraine erinnert Egon Krüger an seine Kindheit. Mit Pferd und Wagen flüchtete er im Zweiten Weltkrieg aus Hinterpommern. Sein Elternhaus sah er nie wieder.
Veröffentlicht:08.04.2022, 13:30

Von:
  • Susanne Böhm
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Wenn Egon Krüger die Bilder von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine sieht, muss er an seine Kindheit denken. Der Pasewalker hat selbst die Flucht erlebt. Er war gerade acht geworden, als sein Vater im Februar 1945 einen Fluchtwagen baute. In dem Fuhrwerk verbrachte er vier Wochen des Zweiten Weltkriegs. „Damals dachten wir, wir sind bald wieder zu Hause.“ Er sah sein Elternhaus nie wieder.

Der 6. Februar vor 77 Jahren war ein kalter Wintertag in Denzig im heutigen Polen, erinnert er sich. „Der Ortsbauernführer hatte allen Einwohnern unseres Dorfs gesagt, die Front kommt näher, wir müssen das Dorf vorübergehend verlassen. Meine Oma fragte, warum nicht einfach jemand Hitler erschießt. Heute denken das bestimmt viele über Putin.“

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Einen Ackerwagen habe sein Vater zusammen mit drei polnischen Arbeitern zum Leiterwagen umgebaut und für die Flucht umgerüstet. „Die Seiten der Leitern hat er mit Brettern verkleidet. Das Dach bestand aus Holzleisten, die mit Teppichen bespannt waren.“ Der 85-Jährige sieht alles noch bildlich vor sich.

Sogar Ochsen wurden beschlagen

„Der Wagen war sechs bis sieben Meter lang. Hinten wurden Getreide und Heu für die Pferde gestapelt, danach kamen Bekleidung, Betten, Wertsachen und Lebensmittel wie Schinken, Speck, Wurst und Schmalz.“ Alle Familien im Ort richteten notdürftig Fluchtwagen her. „Sogar Ochsen wurden mit Hufeisen beschlagen.“ Er erinnert sich, dass seine Eltern noch die Rinder, Schweine und Hühner fütterten. „Alle hofften, dass es nur für ein paar Tage sein wird.“

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Fast 30 Gefährte reihten sich zu Beginn des „Denziger Trecks“ hintereinander. „Es war traurig. Die Glocken läuteten, viele weinten.“ Dann ging es los. „Meine Großmutter, meine Schwestern und ich saßen auf dem Wagen, meine Mutter fuhr mit dem Fahrrad nebenher, mein Vater ging den ganzen Weg zu Fuß, und Kutscher war ein Pole, der den Pferden vertraut war.“ Die Wagen mit Rädern aus Holz und Eisen kamen im Schritttempo voran, unterbrochen von Unfällen auf eisglatten Straßen. „Heute würde man sagen, stop and go. Die Straßen waren mit Flüchtlingstrecks verstopft. Dazwischen bewegte sich auch noch die Wehrmacht.“ Bilder von toten Pferden und kaputten Fuhrwerken am Straßenrand prägten sich dem Jungen ein.

„Man war froh, wenn man Stroh hatte“

Über Umwege und auf Nebenstrecken ging es von Dramburg über Labes, Naugard, Gollnow und Altdamm über die Oder nach Penkun, von dort über Holzendorf bei Prenzlau, Friedland, Anklam, Jarmen, Dersikow, Grimmen, Wendorf und den Rügendamm nach Altefähr auf Rügen. Übernachtet wurde in Sälen von Dorfgaststätten, Ställen oder Schulen. „Man war froh, wenn man Stroh als Nachtlager hatte. Ständig weinten Kleinkinder. Es war schrecklich.“ Dennoch sei die Flucht für ihn und seine Schwestern nicht so traumatisch gewesen, wie für die Erwachsenen. „Für uns war das wohl wie ein Abenteuer. Die Zusammenhänge und die Tragweite konnten wir nicht erkennen.“ Die Flucht endete für Familie Krüger exakt einen Monat, nachdem sie begonnen hatte, am 6. März in Klein Stresow, einem einzelnen Bauerngehöft am Bodden auf Rügen. „Wir haben einen Monat gebraucht von Denzig in Hinterpommern nach Rügen in Vorpommern. Heute fahren wir diese Strecke mit dem Auto in vier bis fünf Stunden.“

Die Familie und auch die Pferde hatten die Strapazen heil überstanden. „Was aus Onkel und Tante aus Stettin mit ihrem Ochsengespann geworden ist, haben wir allerdings nie erfahren.“ Die Rüganer seien nicht erfreut gewesen über die ungebetenen Gäste in ihren Häusern, beugten sich aber einer Anordnung des Landkreises. Im Mai seien Russen nach Rügen gekommen und hätten die Häuser nach deutschen Nazis durchsucht. „Sie waren sehr kinderfreundlich und auch zu meiner Mutter und meiner Oma sehr höflich. Sie guckten nachts in unser Zimmer, einer sagte, ‚die Kinder schlafen schön‘, dann gingen sie wieder. Einmal haben sie ein Schwein geschlachtet, das sie wohl irgendwo gestohlen hatten und haben jedem Kind einen riesigen Brocken Fleisch geschenkt.“ Der Braten habe für die ganze Familie gereicht. Die Russen hätten sich gegenseitig erzogen. „Wer sich nicht benahm, wurde von seinen eigenen Landsleuten verprügelt.“

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Ihr Bauernhof in Denzig wurde völlig zerstört

Bei der Bodenreform habe seine Familie zehn Hektar Land bekommen und wieder von Ackerbau und Viehzucht gelebt. Es gab Fisch aus der Ostsee, Getreide vom Feld und Schwein, Rind und Geflügel aus dem Stall. Als arm habe er sich nie empfunden. „Es fehlte uns an nichts.“ Die Familie blieb auf Rügen. Ihr Bauerngehöft in Denzig war völlig zerstört worden.

Niemals hätte Egon Krüger sich träumen lassen, dass sich in seinem Leben nochmal ein Krieg in unmittelbarer Nähe abspielen würde. „Ich hätte nie gedacht, dass Putin so ein Schwein ist. Ich bin sehr enttäuscht, das ist so schlimm für die Leute.“ Er sei oft in Kiew gewesen. „Das war so eine schöne Stadt. Die Ukrainer sind unheimlich gastfreundlich, wie auch die Russen und die Polen. Ich wurde in Kiew unheimlich freundlich aufgenommen. Auch wenn die Leute wenig Geld haben, gilt bei ihnen bis heute, ‚Gast im Haus, Gott im Haus‘.“

„Man hat vielleicht alles zu locker gesehen“

Egon Krüger hofft inständig, dass kein dritter Weltkrieg ausbricht. „Es darf niemand ausrasten. Wenn jetzt die Nato eingreift, fliegen sofort die Atombomben. Das muss diplomatisch geklärt werden, sonst vernichten die Russen, so viel sie wollen. Man hat all die Jahre vielleicht alles zu locker gesehen. 2014 ging der Krieg ja schon auf der Krim los. Wir hätten 1990 Russland einbeziehen sollen. Alle baltischen Staaten hätten ein vereintes Europa bilden sollen.“

Kann er sich vorstellen, nochmal flüchten zu müssen? „Wohin sollen wir denn flüchten, wenn alle Natostaaten beteiligt sind? So weit wird es doch wohl nicht kommen. Putin wird sich nicht trauen, gegen die Nato zu kämpfen. Das schafft er nicht. Das traue ich ihm nicht zu.“

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