Zu lange U-Haft
Angeklagter Messerstecher von Angermünde wieder frei
Neuruppin / Lesedauer: 3 min

Dagmar Simons
„Wir sind sehr, sehr unzufrieden mit der Situation, aber wir schulden dem Angeklagten ein faires Verfahren“, betonte die Vorsitzende Richterin. Letzteres war aber unter den gegebenen Umständen nicht möglich, da zwei wichtige Zeugen nicht ausfindig gemacht werden konnten. Deshalb setzte das Gericht das Verfahren aus.
Der Angeklagte, ein 35-Jähriger aus dem Amtsbezirk Joachimsthal, war im April des vergangenen Jahres von der ersten großen Strafkammer des Landgericht Neuruppin wegen versuchten Mordes, gefährlicher Körperverletzung und Bedrohung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünfeinhalb Jahren verurteilt worden. Gleichzeitig hatte das Gericht seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Der Mann hatte seinem späteren Opfer im Juni und Juli 2018 Sprachnachrichten geschickt, in denen er ihm Gewalt androhte.
Messer in den Rücken gestochen
Am Tattag befand sich der ahnungslose Mann in Angermünde auf dem Weg zum Einkaufen, als der Angeklagte von hinten mit dem Fahrrad ankam und ihn wieder beleidigte. Noch während der Fahrt stach der Angeklagte mit einem etwa zehn Zentimeter langen Messer seinem vermeintlichen Nebenbuhler in den Rücken. Beide landeten auf dem Boden. Dem Verletzten gelang es, zu entkommen und die Rettungsstelle zu alarmieren. Er musste notoperiert werden.
Gegen das Urteil hatte der Angeklagte Revision eingelegt. Der Bundesgerichtshof hatte die Entscheidung teilweise aufgehoben. Nun muss eine andere Strafkammer neu entscheiden. Bereits der erste Anlauf im Januar, eine neue Hauptverhandlung durchzuführen, war gescheitert. Auch ein neuer Versuch am Dienstag verlief erfolglos. Das Gericht hatte die polizeiliche Vorführung von zwei wichtigen Zeugen angeordnet. Vergeblich: Die Polizei konnte die eine Zeugin nicht finden. Sie sei seit Wochen nicht mehr in ihrer Wohnung gewesen, hatten Nachbarn den Beamten gesagt. Die Zeugin meldete sich gleichwohl später bei Gericht: Sie sei nach wie vor krank und könne nicht vor Gericht erscheinen.
Opfer für Gericht nicht erreichbar
Das Opfer, das für das Gericht als Zeuge unabdingbar ist, wohnt laut Polizeiauskunft seit drei Jahren nicht mehr unter der angegebenen Wohnanschrift. Auch telefonisch konnte die Richterin den Mann nicht erreichen. „Ohne ihn ist aus Sicht der Kammer eine Verhandlung nicht möglich“, sagte sie. Ihr Plan sei „total über den Haufen geworfen“, nämlich der, zeitnah das Verfahren zu Ende zu bringen.
Das Gericht entschied, das Verfahren auszusetzen, da ein Neubeginn mit Blick auf den unbekannten Aufenthalt des Zeugen derzeit zeitlich schwer eingrenzbar sei. Die Ungewissheit über mögliche weitere Einschränkungen wegen des Coronavirus spielte ebenfalls eine Rolle.
Der Angeklagte sitzt seit dem 1. September 2018 in Untersuchungshaft – zu lange nach den Regeln der Strafprozessordnung. Das Gericht setzte den Haftbefehl wegen der schon so langen Untersuchungshaft außer Vollzug. Allerdings unter Auflagen: Der Angeklagte muss sich zweimal wöchentlich bei der Polizei melden. Der 35-Jährige konnte den Gerichtssaal am Dienstag als freier Mann verlassen, zumindest vorläufig.