Holunderrezepte

Apfelgräfin produziert Fliederkreude

Lichtenhain / Lesedauer: 7 min

Mit Fliederkreude aus der Uckermark lassen sich Fisch- und Wildgerichte wunderbar aufpeppen. Aber, was ist das überhaupt, und woher kommt sie eigentlich?
Veröffentlicht:26.12.2022, 10:00
Aktualisiert:26.12.2022, 10:29

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Der in großen weißen Dolden blühende, rotstielige schwarze Holunder oder Holler, der in Nordostdeutschland auch Flieder oder plattdeutsch „Fleder“ genannt wird, war einst allgegenwärtig. Das hat sich geändert. Viele Hecken sind verschwunden, und in Gärten mag ihn kaum noch jemand haben. Wild wachsend schafft er es hierzulande statt zu stattlicher Baum- höchstens noch zu Strauchgröße. Motorisierte Zeitgenossen auf dem Lande besinnen sich seiner bestenfalls, wenn die tief dunkel-lila, fast schwarzen Beeren reif und ein Leckerbissen für ganze Vogelscharen sind. Deren entsprechend verfärbte Exkremente auf Scheiben und Karosserie bringen da schon mal zur Weißglut. Doch unsere Vorfahren wussten den Holunder noch zu schätzen. Beinahe alles von der Wurzel bis zur Beere fand sinnvolle Verwendung, und „Fliederkreude“ gilt sogar als besondere, uckermärkische Spezialität.

Viele Namen

Abgeleitet wohl aus „Krud“, der Bezeichnung für stark eingedickten Saft, gibt es für die nur mündlich tradierte Zubereitung der am Ende tief dunkelbraun bis lila-schwärzlichen und äußerst zähflüssigen, beinahe festen Paste diverse Namen. Denn Fliederkreude, gelegentlich auch Holundermus, Fliedermus, Fliederkräude, -krüde, -krüt oder Fleddermus, auch Fliederkraut und sogar Fliederkreide meint anscheinend immer das Gleiche. Das hat es Daisy von Arnim in Lichtenhain nicht unbedingt leichter gemacht, ihre eigene Fliederkreude zu kreieren. „Es war ein Lernprozess“, sagt sie, „ich hab viel recherchiert und probiert, hab Mitstreiter aus dem Oderbruch gefunden, die mich beraten konnten und mich schließlich auf den richtigen Weg brachten.“ Jetzt sei sie in etwa da, wo sie geschmacklich hinwollte, um ihre Fliederkreude im Hofladen und im Internetshop mit gutem Gewissen vertreiben zu können, aber das habe fast zwei Jahre gedauert und sei nicht frei von Rückschlägen gewesen.

In Medizin und Küche

Heute droht trotz mehr als zweitausendjähriger Verwertungsgeschichte des Holunders leider, vieles an Wissen um seine Verarbeitung und Verwendung in Medizin und Küche in Vergessenheit zu geraten. Dass die Fliederkreude vom Hof Lichtenhain (noch) kein Verkaufsschlager ist, scheint da wenig verwunderlich.

Für unsere Vorfahren dagegen war vieles noch ganz selbstverständlich. „Fliedermus ist sein Leibgericht“, schrieb Bettina von Arnim 1826 aus Berlin an ihren Mann im ländlichen Wiepersdorf über den Gastrosophen Carl Friedrich von Rumohr. Der ziemlich korpulente Verfasser des berühmten, „Geist der Kochkunst“ betitelten, gastronomischen Schlüsselwerkes, das seinen Weg sogar in die „Boitzenburgische Bibliothek“ im Schloss gefunden hatte, hätte sich von ihr „alle Morgen einen Tassenkopf voll schicken lassen“, klagte sie ihrem Mann. Und weiter flehte sie: „Der Alberti hat sich auch damit kuriert und nennt mich die Retterin seines Lebens; all diese bedeutenden Kuren haben dem Fliedermus ein nahes Ende bereitet und ich muß bitten, daß wenn noch welches im Vorrat ist, mir es zukommen zu lassen.“ Sowohl Rumohr als auch besagter Alberti dürften um die entschlackende, entwässernde und zudem immunstärkende medizinische Wirkung des Holunders gewusst haben. Auch Sebastian Kneipp spricht davon. Bibelforscher meinen, dass sogar die Krippe des Christkindes aus dem Holz eines Holunder-Baumes gefertigt worden sein soll. Nachweisbar jedenfalls ist, dass schon die alten Römer die Früchte des Holunders für ihre raffinierte Küche zu schätzen wussten. Genutzt wurde buchstäblich alles, was die Pflanze hergab. Entsprechend weiterverarbeitet, versteht sich, denn roh verzehrt sind die Beeren für uns Menschen ungenießbar. Auch wenn ihre antioxidantische Wirkung geradezu verführerisch als „Jungbrunnen“ gehandelt wird, sollten sie niemals roh gegessen werden. Das in ihnen enthaltene toxische Glykosid hat im gelindesten Falle stark abführende, eher schlimmere Wirkung. Eingekocht und weiterverarbeitet sieht die Sache dagegen ganz anders aus.

Wandelndes Lexikon

Ursula E. Duchrow-Buhr, die Vorsitzende des Holunder-Bund e. V. im anhaltinischen Niederndodeleben der Gemeinde Hohe Börde, ist wie ein wandelndes Lexikon. Sie sammelt alles, was sich zum Thema Holunder finden lässt, hat vieles selbst probiert und zahlreiche Kontakte geknüpft, auch in die Uckermark. Sogar im Boitzenburger Land sei sie vor Jahren schon einmal gewesen, um die Boitzenburger Früchtezauber-Damen in ihrer Küche zu besuchen. Sie hätten damals unter anderem mit interessanten Holunderrezepten experimentiert, erinnerte sich die heute knapp 70-jährige noch immer begeistert. Mit dieser Begeisterung hat die Vereinsvorsitzende schon viel bewegen können. Wer sich über die Bereitung von Holundersirup, -saft oder -gelee und -likör, über die zu „Hollerküchle“ oder zu Sekt verarbeiteten Blütendolden und zahllosen Rezepte oder einfach nur ganz allgemein zum Holunder informieren will, ist richtig bei ihr. „Ich habe mein ganzes Leben dem Holunder gewidmet“, lacht sie und erklärt, dass es zwischen Mus und Kreude einen feinen, aber wichtigen Unterschied gebe. „Die Verwendung in der Küche ist ganz ähnlich, aber das Mus wird mit verschiedenen Zugaben aus reinem Holundersaft gekocht, hat im Gegensatz zur Fliederkreude eine nicht so feste Konsistenz und ist entsprechend auch weniger lange haltbar“, sagt sie und versichert, dass für die Kreude zunächst die ganzen Früchte gekocht werden müssten und dass alles eine sehr Energie- und zeitintensive Angelegenheit sei.

Früher konnte bei fleißigem Rühren die Kreude im Kupferkessel auf dem ohnehin geheizten Herd sozusagen nebenher mitkochen. Ein Prozedere, das – wie in einschlägigen Internet-Blogs heute nachgelesen werden kann „eine ziemliche Sauerei“ gewesen sei, sodass eher zum Kauf des fertigen Produktes geraten wird. Dass die Fliederkreude bis heute überlebt hat und noch immer hochgeschätzt wird, dürfte allein mit ihrer geschmacklichen Wirkung zu tun haben. Als kaum halbteelöffelgroße Zugabe zu Fisch- und Wildsoßen, zu Gulasch, zu Kartoffelbrei, zu Rotkraut oder dicken Pfannkuchen ist sie unübertroffen. Ihre Verwendung hätten, so heißt es, die Hugenotten in der Uckermark etabliert. Die Glaubensflüchtlinge vermissten hier für ihre im Gegensatz zur einheimischen doch recht raffinierte Küche den gewohnten Rotwein. Die Fliederkreude hätte ihnen da als willkommener Ersatz gedient. Sie verfärbte und wertete den hier erhältlichen Landwein etwas auf, sodass er für ihre Gaumen gefälliger wurde und eher an die französischen Weine erinnerte. Derartige Zusätze sind heute verboten, die erheblich aufwertende Wirkung des Einsatzes der Fliederkreude für die Bereitung brauner Soßen indes ist geblieben.

Fliedermus im alten Kochbuch entdeckt

Den Mühen der Herstellung dieses kostbaren Küchenhelfers aber hat man sich schon früher gern entzogen. Das beweist sogar das erstmals 1897 in Stettin veröffentlichte Kochbuch „Am Herd des Hauses“. Seiner Verfasserin, der 1841 in Angermünde geborenen Frieda Amerlan, war der Gebrauch des Fliederbeerenextraktes in der Küche noch gut bekannt. Und so schrieb sie, dass „Fliedermus. Der zu einem steifen Brei eingekochte Saft der schwarzen Holunderbeere (Sambucus)“ sei, der „beim Kochen von Bierfischen gebraucht“ würde und „falls man ihn nicht selbst einkocht – in Apotheken käuflich“. Vermutlich hat sie letzteres gemacht, um sich die Eigenherstellung zu ersparen, sonst hätte sie den feinen Unterschied zwischen „Mus“ und „Kreude“ gemerkt, denn von letzterer, auch ihrer damaligen medizinischen Anwendungen wegen tatsächlich noch in Apotheken gehandelten, verwendet sie knapp ein halbes Löffelchen, um ihrer Soße zum „Bierfisch“ zu besonders schöner Farbe und köstlichem Aroma zu verhelfen.

Und was ist so aufwendig an der Herstellung? Zum einen ist es die lange Zeit, denn der Prozess kann schon mal gut seine 20 Stunden in Anspruch nehmen, was auch einen erheblichen Energieeinsatz bedeutet. Und man muss dabei bleiben, damit nichts verdirbt. Zum anderen ist es das Verhältnis von benötigter Menge und dem schließlichen Ergebnis, denn für knapp 250 Gramm Fliederkreude sind schon mal gut und gerne zehn Zehnlitereimer voller reifer Holunderbeeren nötig. Die wollen erst einmal gesammelt, gesäubert, gesaftet und durchgeseiht sein, ehe es überhaupt erst ans allmähliche „Verdampfen“ fast sämtlicher Flüssigkeit gehen kann. „Einiges lässt sich heute maschinell erleichtern“, sagt Daisy von Arnim, „aber längst nicht alles!“

Für die Kreude spricht bis heute, dass schon winzige Mengen fantastische Ergebnisse bringen und sie bei kühler Lagerung eigentlich ewig haltbar ist.