Rente reicht nicht

Siebenfache Oma muss weiter putzen gehen

Prenzlau / Lesedauer: 4 min

Als Ossi weiß Carmen Gödke, dass sie vor der Wende längst im Ruhestand gewesen wäre und auskömmlich hätte leben können: „Doch das ist 2022 nicht möglich.”
Veröffentlicht:28.11.2022, 16:00

Von:
  • Claudia Marsal
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Kaputte Knie, schmerzende Arme und ein lädierter Rücken – das ist der Preis, den Carmen Gödke für die Schufterei in der Reinigungsbranche gezahlt hat. Viele Jahre war die Prenzlauerin in Vollzeit mit Besen, Staubwedel und Wischeimer unterwegs, um Schulen, Betriebshallen und Büros in der Kreisstadt sauber zu halten. Ab diesem Monat wäre damit eigentlich Schluss gewesen – wenn die 63-Jährige denn von ihrer Altersrente leben könnte. Doch das kann sie nicht. Weil ihr vom Brutto in Höhe von 963,43 Euro nach Abzug aller Abgaben nur noch 856,50 Euro bleiben, putzt die siebenfache Oma weiter. 485 Euro muss sie schließlich schon für die Miete aufbringen, exklusive aller Nebenkosten. Carmen Gödke ist ja froh, dass ihr der Wechsel noch ohne Abzug von 11,4 Prozent ermöglicht wurde, wie sie sagt. „Anfang des Jahres hieß es nämlich noch, dass ich mich auf diese Kürzung einstellen muss”, erinnert sie sich an die ersten Gespräche mit der Rentenkasse zurück: „Erst im Oktober kam dann die Entwarnung.”

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So lange habe sie auch gezittert, ob das mit dem (Teil-)Ruhestand überhaupt etwas wird: „Aber länger hätte ich die vielen Stunden pro Woche wohl nicht durchgehalten.” Jetzt ist sie dankbar, dass ihr der Arbeitgeber den Zuverdienst bis zur Maximalgrenze von 600 Euro weiter ermöglicht: „Denn ohne dieses Geld würde ich nicht über die Runden kommen.” Statt Ausschlafen und Relaxen steht also weiterhin arbeiten an. Carmen Gödke hat sich in die Situation gefügt und aufgehört, sich über Recht und Unrecht in diesem Staat zu empören. Die vierfache Mutter betet nur, dass sie körperlich weiter lange in der Lage sein wird, die Gebäudereinigung in gewohnter Qualität zu erledigen. Denn auf rundum zufriedene Kunden legt sie wert. Da ist die gelernte Zerspanerin eigen.

Nur noch leichte Stellen

Carmen Gödke geht ganz pragmatisch davon aus, dass sich ihr Körper nach dem Wegfall der Vollzeit etwas erholen wird. „Ich muss nun ja am Tag nur noch ein, zwei Stunden putzen und habe auch nur die leichteren Stellen behalten.” Gefragt, was besonders anstrengend an diesem Job sei, sagt die 1959 Geborene, dass ihr vor allem das Staubsaugen schwer falle: „Lieber mache ich die Toiletten sauber oder wische eine ganze Etage.” Aber das Saugen gehe so sehr aufs Kreuz, dass ihr davor wirklich graue. Auf ihre Firma lässt die Kreisstädterin übrigens nichts kommen. Die mache für ihre Mitarbeiter möglich, was irgendwie machbar sei, versichert die alleinstehende Frau: „Sonst hätte ich es da wohl auch kaum so lange ausgehalten. Selbst als älterer Kollege ist man da noch etwas wert.”

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Carmen Gödke hofft, dass das so bleibt und gibt sich derweil keinen Träumen vom unbeschwerten Rentnerleben hin. Sie weiß natürlich, dass in der DDR für sie schon mit 60 Schluss gewesen wäre und „man dann keinen Zuverdienst mehr brauchte. Aber ich will nicht meckern. Verreist bin ich ohnehin nie gern. Und mit dem, was ich jetzt am Ende habe, komme ich aus.” Größere Reparaturen im Haushalt dürften allerdings nicht nötig werden, räumt sie abschließend traurig ein.

Armut nimmt weiter zu

Die Armut in Deutschland hat nach einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung im vergangenen Jahrzehnt deutlich zugenommen. Die Quote der sehr armen Menschen, die weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben, sei zwischen 2010 und 2019 um gut 40 Prozent gestiegen, berichtete das WSI laut Nachrichtenagentur in seinem vergangene Woche veröffentlichten Verteilungsbericht 2022. Und vieles spreche dafür, dass die Corona-Pandemie, die Energiepreisexplosion und die hohe Inflation diese Entwicklung in den Folgejahren weiter verschärft hätten.

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„Im Jahr 2019 waren so viele Menschen in Deutschland von Armut betroffen wie nie zuvor”, fassten die Autorinnen des Verteilungsberichts, Dorothee Spannagel und Aline Zuco, das Ergebnis der Studie für dpa zusammen. Obwohl das vergangene Jahrzehnt von einer guten Wirtschaftsentwicklung und sinkender Arbeitslosigkeit geprägt gewesen sei, hätten die armen Haushalte davon nicht profitiert. Sie seien sogar noch weiter zurückgefallen. Die Armutslücke – also der Betrag der einem durchschnittlichen armen Haushalt fehlt, um rechnerisch die Armutsgrenze hinter sich zu lassen – sei von 2968 Euro im Jahr 2010 auf 3912 Euro im Jahr 2019 angewachsen. Die Armutsgrenze liegt in Deutschland bei Alleinstehenden bei 1251 Euro netto im Monat. Carmen Gödke liegt mit knapp 400 Euro darunter.

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