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Lesung

Warum europäische Projekte in Russland scheiterten

Templin / Lesedauer: 4 min

Zwei aktuelle Romane zur Alltagsgeschichte in Russland stellt der Autor Martin Gross in einer Lesung am 6. Oktober in Templin vor.
Veröffentlicht:29.09.2023, 09:37

Von:
  • Sigrid Werner
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Der Autor und Germanist Martin Gross lädt am 6. Oktober zu einer Lesung aus seinen beiden Romanen „Ein Winter in Jakuschevsk“ und „Nadjas Geschichte“ ab 19 Uhr ins Hotel zum Eichwerder in Templin ein. Über Verwandtschaft in Herzfelde stieß der heute bei Uelzen lebende Schriftsteller in der Kanzlerinnen-Heimat Templin auf literaturinteressiertes Publikum und entschloss sich, seine höchst aktuellen Werke auch hier vorzustellen. In den beiden Romanen beschreibt er den Alltag einer krisengeplagten Bevölkerung. Er hat die russische Mentalität und Kultur durch längere Projekt-Aufenthalte in Russland persönlich kennengelernt. Die Romane entstanden unter anderem auf Basis von Tagebuchaufzeichnungen. 

Martin Groß lernte Russland im Krisenjahr 1998 und über mehrere Jahre in europäisch-russischen Partnerprojekten kennen. Zunächst im Auftrag der Universität Lüneburg und später für weitere Hochschuleinrichtungen eruierte er damals Kooperationsmöglichkeiten mit russischen Universitäten und versuchte sie umzusetzen. Ziel war es, möglicherweise auch Russland einzubinden in einen europäischen Hochschulraum mit vergleichbaren Abschlüssen. 

Distanz zum Westen

Damals herrschte noch Frieden. Aber Russland begann schon damals unter Boris Jelzins Führung, sich vom Westen abzuwenden, eigene Stärke und Werte zu betonen. Martin Groß vermittelt in seinen beiden Romanen einen Eindruck davon, warum in den 1990er Jahren europäische Projekte gescheitert sein könnten. Wer die Bücher liest, könnte zudem Parallelen zum Umgang mit ostdeutschen Erfahrungen und Menschen nach der Wiedervereinigung ziehen. 

In „Ein Winter in Jakuschevsk“ erzählt er, wie der Romanheld mit hehren Vorstellungen und auch einer gewissen westeuropäischen Arroganz versucht, an der sibirischen Hochschule europäische Standards zu implementieren. Statt verschultes Lehren und festen Stundenplänen mit bis zu 30 obligatorischen Seminarstunden wöchentlich regte der Erzähler zu freien Diskussionen zu aktuellen Fragestellungen in der Literaturwissenschaft statt Pauken vorgegebener Lehrsätze oder Thesen an. Er wollte ermöglichen, dass auch Studenten in Russland in ihrem Studium mehr individuelle Schwerpunkte und Wahlmöglichkeiten bekommen und in internationalen Austausch treten können. „Du kennst ja unser Mantra: ein Student muss sich nicht in allen Fachgebieten auskennen, aber er muss lernen, sich bei Bedarf in verschiedene Fachgebiete einzuarbeiten ‐ das Lernen lernen“.

Europa als Heilsbringer?

Der Roman regt dazu an, zu diskutieren, wie viel Freiheit sein darf und muss in Lehre und Forschung? Wie viel Verlässlichkeit Ausbildungssysteme liefern sollten, damit Hochschulen die Fachleute hervorbringen, die Wirtschaft und Wissenschaft brauchen. Und er wirft auch die Frage auf: Sind europäische Standards tatsächlich Heilsbringer für jedes andere Land der Welt? In der Uni in Jakuschevsk jedenfalls konnten sich acht Dozentinnen um 70 Studenten kümmern, in Deutschland seien es elf für 800, lässt Gross seinen Erzähler abwägen. Wer will da richten, was besser ist?

Der Autor Martin Gross kommt nach Templin. (Foto: Jan)

„Ablehnung war bei unseren ambitionierten Projekten damals allenthalben spürbar“, sagt Martin Gross im Gespräch mit dem Uckermark Kurier. Die russischen Kollegen sahen Partnerprojekte kritisch, die nur dann von der EU mitfinanziert wurden, wenn sie nach den Regeln der EU mit deren Vorgaben zu Reformen und Innovationen realisiert wurden. Sie empfanden es mehr als Bevormundung, denn als echte Partnerschaft.

15 Jahre lang Projekte

Groß hatte einst in einem Forschungssemester versucht, für die Stadt Lüneburg und die dortige Hochschule Kooperationen in verschiedenen Fächern (Physik, Geografie und Sozialarbeit) anzubahnen. 15 Jahre lang hat er etliche Projekte begleitet. „Nicht immer passten die Förderbedingungen zu den russischen Rahmenbedingungen“, weiß Martin Groß heute. Er nennt als Beispiel den restriktiven Umgang mit den Straßenkindern in Russland, während in Deutschland mehr auf Reintegration und Streetworkertätigkeit gesetzt wird.

Martin Gross und seinen Protagonisten in den beiden Romanen ist es trotz unterschiedlicher Auffassungen mit der Zeit gelungen, Freundschaften mit russischen Partnern zu schließen, die mit dem Ukraine-Krieg aber einen herben Riss bekommen haben und teils neu bewertet werden müssen. In seinem Roman „Nadjas Geschichte“ wird das Schicksal einer Russin beschrieben, die nach der Auswanderung nach Deutschland nach einer Gehirnblutung ihr Gedächtnis verliert und erst Schritt für Schritt ins Leben zurückfindet, ihr eigenes Ich rekonstruieren muss. Dass ihr Land inzwischen die Ukraine überfallen hat, hält ihr Umfeld anfangs vor ihr verborgen. Doch irgendwann ist nicht zu verhindern, dass die Titelheldin auch davon erfährt. Wie sie, ihre Freunde und Angehörigen in der Heimat damit umgehen, die versuchen ihr wieder Lebensmut zu geben, gerät zu einer höchst aktuellen Auseinandersetzung mit der Alltagsgeschichte in Russland, russischer und europäischer Politik.

Kontakt mit russischen Partnern

„Ich bin bis heute noch mit einigen Freunden und Partnern in Russland in Kontakt, wir erkundigen uns nach unserem Leben, aber wir wissen, dass jeder politisch eine andere Meinung hat, mancher sich auch nicht mehr traut, mit uns zu kommunizieren“, sagt Martin Gross, mit dem Interessenten am 6. Oktober ins Gespräch kommen können. Die Lesung ist kostenfrei.