ALFA-Mobil

Wo es Hilfe beim Lesenlernen gibt

Templin / Lesedauer: 5 min

Es gibt Menschen, die können Buchstaben nur schwer zusammenbringen und meiden das Lesen und Schreiben. Die Volkshochschule Uckermark macht ihnen Mut.
Veröffentlicht:15.09.2023, 13:07

Von:
  • Sigrid Werner
Artikel teilen:

Julia Weis hätte gern wie ihre Schwester studiert. Doch als Legasthenikerin mit einer starken Lese-Rechtschreibschwäche hat sie es nur bis zum Hauptschulabschluss geschafft. In einer Raumausstatterlehre kämpfte sie sich irgendwie durch. Aber auch im Beruf, in dem sie glaubte, möglichst wenig schreiben zu müssen, kam sie an ihre Grenzen. Zum Beispiel, wenn sie einen Kundenwunsch notieren musste und am Ende den Namen nicht mehr lesen konnte. Und das alles, obwohl sie und ihre Eltern nichts unversucht ließen, durch Übung ihre Lese- und Schreibkompetenzen zu verbessern. „In den 1990er Jahren haben wir alle möglichen Therapien durchgemacht, aber nichts hat so richtig geholfen. Ich kriege die 26 Buchstaben einfach nicht sicher zusammen“, erzählt die heute 43-Jährige.

Häufig viel geübt

Julia Weis hangelt sich von Eselsbrücke zu Eselsbrücke, hat Rechtschreibregeln auswendig gelernt wie kaum ein anderer. Sie lässt sich Texte vom Computer vorlesen. Orientierung in fremden Städten und U-Bahnen kostet so viel Zeit, da kann die Bahn schon mal abgefahren sein. Und wenn sie digital arbeitet, orientiere sie sich in ihren Texten am rot Unterstrichenen und kontrolliere Wörter akribisch genau, bevor sie auf den „Senden“-Knopf drückt. Dabei wundere sie sich, wie unbekümmert andere ihr fehlerhafte Texte schicken. Den meisten wäre es ein Leichtes, sich mehr Mühe zu geben. Für Julia Weis ist es ein Kraftakt, den sie immer wieder auf sich nimmt, und dadurch auch schon gute Fortschritte erzielt hat. Nun möchte sie auch andere ermuntern, es ihr gleich zu tun. Sie ist Lernbotschafterin eines von zwei ALFA-Mobilen, die deutschlandweit unterwegs sind und Menschen motivieren wollen, sich trotz aller Schwierigkeiten ans Lesen und Schreiben zu wagen.

ALFA–Mobil in der Uckermark

Holger Wiechmann, Leiter des Grundbildungszentrums an der Kreisvolkshochschule Uckermark, hatte das ALFA-Mobil im März nach Prenzlau eingeladen. Am Dienstag machte es in Templin Station, am Donnerstag in Angermünde. Susann Günther vom ALFA-Projekt hatte auf dem Wochenmarkt in Templin noch gar nicht den Stand fertig aufgebaut, als eine Besucherin nach einem Kuli fragte. „Als ich ihr unser Infomaterial gleich mit überreichen wollte, wiegelte sie ab. Sie könne ohnehin nicht lesen“, erzählt Susann Günther. Das spreche Bände: Selbst wenn das Mobil etwa einmal jährlich vor Ort sei, gebe es immer genug Bedarf. Bei 6,2 Millionen Erwachsenen in Deutschland, die große Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben haben, gebe es runtergerechnet auf die Uckermark rund 10.000 erwachsene Bürger, die eine der wichtigsten Kulturtechniken nicht ausreichend beherrschen, sagt Holger Wiechmann. In der Kernstadt Templin dürften es um die 1000 sein.

Häufige Ursache Wahrnehmungsstörungen

Nicht aus Faulheit oder Dummheit, sondern wegen einer Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung im Gehirn, ergänzt Susann Günther. Oder weil sie nach extremen Schwierigkeiten in der Schule und dadurch vermindertes Selbstbewusstsein Vermeidungsstrategien entwickelten und die wenigen Fähigkeiten dann nach und nach verloren gingen. Die Wissenschaft habe noch keine Lösung für das Problem gefunden. In Dänemark könnten Menschen mit dieser Störung sogar studieren, indem auf Audio-Kommunikationsmittel ausgewichen werde. Deutschland sei da immer noch ein Entwicklungsland. Templiner Marktbesucher fragten am ALFA-Stand, wie es sein könne, dass trotz Schulpflicht sich immer noch Erwachsene ohne ausreichende Lese- und Rechtschreibkompetenzen durchs Leben tricksen müssen, unabhängig von Berufs- und Bildungsstand. „Sie spannen Familien ein, nehmen sich die Schrift-Arbeit für abends mit nach Hause, absolvieren dort mit ihren privaten ,Dolmetschern‘ in Sonderschichten ihr Schriftpensum des Tages. Von Faulheit kann also keine Rede sein“, so Susann Günther.

Österreich und Schweiz Vorbild

In Österreich und der Schweiz erfolge frühzeitig, in der zweiten Klasse, ein Screening, um die Kinder zu entdecken, die dann zusätzlich gefördert werden, berichtet Susann Günther. In Deutschland müssten Eltern für eine solche gezielte Förderung teilweise privat richtig viel Geld zahlen, vorausgesetzt, die Störung wurde überhaupt diagnostiziert. „Zu große Schulklassen“, sieht Julia Weis als ein Manko. „Wer Lesen und Schreiben nicht bis zur vierten Klasse gelernt hat, der übt es danach auch nicht mehr.“ Zum Unterrichtsstoff an sich gehört das dann nicht mehr. Sie selbst habe nach der Schule in einem Bildungsangebot für Erwachsene ganz individuelle Unterstützung erfahren, berichtet sie. Dort habe sie erstmals wieder laut lesen geübt. „Das gab zwar nicht gleich den Rieseneffekt, aber es war total wichtig für mich“, erzählt sie.

Niedrigschwellige Hilfe in Lerncafés

Das Wichtigste sei, die erste Hürde zu nehmen und sich wieder zu trauen. Erste Erfolge schaffen neues Selbstbewusstsein. Das Grundbildungszentrum könne dabei helfen, versichert Holger Wiechmann, kostenlos und unverbindlich. Gerade habe man neben den bereits gut von einem Stammpublikum besuchten Lerncafés in Prenzlau, Templin, Schwedt, Angermünde und Brüssow nun auch ganz neu sogenannte Lerncafés mit digitalem Schwerpunkt an den Volkshochschulstandorten in Templin (montags von 9 bis 12 Uhr), Prenzlau (mittwochs 14 bis 17 Uhr) und Angermünde eingerichtet. „Schauen Sie einfach mal auf einen Kaffee und ein Gespräch bei uns herein“, sagt er. Gemeinsam könne man dann schauen, wo man helfen könne. Da könne es um ganz banale Alltagsdinge gehen, ein Rezept oder einen Einkaufszettel aufschreiben, ein Formular ausfüllen, den Umgang mit Handy und Laptop, Alltagsrechnen und natürlich Buchstaben lernen, Lesen und Schreiben üben.

Kontakttelefon:

Holger Wiechmann: 0172 5188797

Simone Schmidt: 0152 25402527