Bewegte DDR-Geschichte
Dieses Ostseebad auf Usedom war die Badewanne der Kumpel
Zinnowitz / Lesedauer: 10 min

Nordkurier
Wer zum Baden nach Zinnowitz kommt, der erwartet neben Sonne, Strand und frischer Brise: eine Promenade mit der typischen Bäderarchitektur der Kaiserzeit. Die bekommt er auch, schließlich erhielt der Ort bereits 1851 die Genehmigung zum Badebetrieb. Jeder hat sie vor Augen, die alten Postkartenmotive mit den vornehmen Herrschaften, die würdevoll aus ihrer züchtig hochgeschlossenen Badewäsche gucken.
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Früher war Zinnowitz das „erste Seebad der Werktätigen”
Aber Zinnowitz hat auch andere Zeiten gesehen. Zeiten, die noch gar nicht so lange vergangen sind und ihre Spuren ebenfalls im Ortsbild hinterlassen haben. 1950 wurde Zinnowitz zum Ersten Seebad der Werktätigen erklärt. „Wer versteht, sich gut zu erholen, versteht auch zu arbeiten“ hieß es von nun an im einstmals bürgerlichen Ferienort.
Bei der „Aktion Rose“ wurden 1953 große Teile des privaten Grundbesitzes enteignet und dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) zur Verfügung gestellt. Durch einen Ministerratsbeschluss wurde das Ostsseebad noch im gleichen Jahr zum zentralen Ferienort der Sowjetisch-Deutschen Aktien-Gesellschaft Wismut (SDAG).

Die Unterkünfte hießen damals „Fortschritt“, „Frieden“ oder „Freundschaft“
Das Unternehmen, das damals zu einem der weltweit größten Produzenten von Uran gehörte, pachtete viele der enteigneten Objekte. Seine Gewerkschaftsorganisation, die Industriegewerkschaft (IG) Wismut, entsendete allein von 1954 bis 1980 rund 850.000 Bergarbeiter mit ihren Familien zum Urlaub nach Zinnowitz. Die Ferien waren gewerkschaftlich organisiert, das bedeutet, dass der FDGB-Feriendienst den Werktätigen subventionierte Urlaubsreisen im Inland vermittelte.
Die Betriebsgewerkschaftsleitungen der Betriebe vergaben sogenannte Ferienschecks. Dafür erhielten die Kumpel und ihre Familien zwei Wochen Badeurlaub in einem der Erholungsheime, die so schöne Namen hatten wie „Fortschritt“, „Frieden“ oder „Freundschaft“.

Überall im Ort, findet man sie noch heute: Das pittoreske Holzhaus „Schwalbennest“ war einst das „Bergmannsheim.“ Die Pension „Seestern“ trug zu DDR-Zeiten den Namen des bulgarischen Kommunisten und Gewerkschafters Georgi Dimitroff. Heim „Alexej Stachanow“ hieß die jetzige „Residenz Vineta“. Im Ferienheim „Glück auf!“, dem heutigen „Preussenhof“, wurden 1973 etwa 550 Gäste verpflegt und mit Konzerten, Tanzturnieren, Modenschauen und Vorträgen unterhalten. All inclusive auf sozialistisch sozusagen.
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Im Kulturhaus begann der Ferientag der Badegäste
Im Juli 1976 erhielt Zinnowitz den Titel „Staatlich anerkannter Erholungsort“. Für alles, was zum ungetrübten Badeurlaub dazu gehörte, wurde von der Wismut gesorgt. Und mehr noch: Wer krank wurde, ging in das Wismut-Ambulatorium. Wer lesen wollte, besuchte die Wismut-Bibliothek. Und wer Lust auf Kino oder Theater hatte, ging in das Wismut-Kulturhaus.
Überhaupt das Kulturhaus: eines der markantesten architektonischen Relikte aus jener Zeit, dessen Ruine den zentralen Treffpunkt von Zinnowitz, den Kulturhauspark, nach wie vor prägt. Von 1954 bis 1956 wurde es als „Kulturhaus der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft“ gebaut. Der Komplex im Stil des sozialistischen Klassizismus umfasste unter anderem ein Theater und einen Kinosaal mit 960 Sitzplätzen, eine Bücherei und einen Speisesaal mit 300 Plätzen. Hier begann der Ferientag für Zinnowitzer Badegäste bei einem kollektiven Frühstück.
„Vollverpflegung war im Ferienscheck inbegriffen. Für Campingurlauber gab es Brötchen in einer Verkaufsstelle auf dem Zeltplatz und die waren stark limitiert, “ erinnert sich Ute Spohler, Vorsitzende der Historischen Gesellschaft Zinnowitz.
Im Heimatmuseum in Zinnowitz widmet sich eine ganze Abteilung der DDR-Geschichte
In dem Heimatmuseum am Zinnowitzer Bahnhof ist eine Abteilung ganz der DDR-Geschichte des Ortes gewidmet. Die Autorin der Bücher „Archivbilder Zinnowitz“ und „Zinnowitz. Ein Fotoalbum“ erinnert sich noch gut daran, wie sich der ganze Ort durch die Wismut veränderte: „Auch den Bau von Schule und Kindergarten sowie Wohnungen und ein Personalwohnheim unterstützte das Unternehmen. Ein Heizhaus der IG Wismut sorgte für warme Neubauwohnungen, Hotels und öffentliche Gebäude. Der Ort wuchs durch die Mitarbeiter, die auch aus Thüringen oder Sachsen herzogen.“
Der Feriendienst übernahm Sonderaufgaben. Die Infrastruktur des Ortes, Wasser- und Abwasserleitungen, sowie die Kläranlage wurden von der Wismut ausgebaut. 1989 waren noch 900 Angestellte der IG Wismut in Zinnowitz beschäftigt.
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Zeitzeugin berichtet aus erster Hand über die bewegte DDR-Zeit in Zinnowitz
Spohler, eine wahre Kennerin der lokalen Geschichte, hat zudem eine Vereinskollegin, die aus erster Hand über die bewegte DDR-Zeit in Zinnowitz berichten kann. Selbst in der guten Stube von Silvia Klöpfer sieht es ein bisschen wie im Museum aus: In einer Vitrine strahlen Porzellan und Glas mit Zinnowitzer Motiven ihren nostalgischen Charme aus. An den Wänden hängen viele historische Abbildungen. Aber vor allem sind es Ordner, darunter auch 80 alte Lithografien von Postkarten, in den sie auf fast jede historische Frage zu Zinnowitz eine Antwort findet.
Die versierte Zeitzeugin absolvierte von 1968 bis 1970 eine Ausbildung zur Köchin im Kulturhaus. Die Küche befand sich damals in einem Seitenflügel des Gebäudes, im Erdgeschoss Richtung Dannweg. Lange Gänge verband sie mit dem Kühlhaus, ein Stockwerk darüber war der Speisesaal. „Das war ein Riesenraum mit viel Geraune, die Kellnerinnen flitzten wie die Wiesel“, beschreibt Klöpfer die trubelige Atmosphäre. Fehlte etwas, gab es aus dem Speisesaal Ansagen über eine Lautsprecheranlage, der sogenannten Annonce.
Drei Essensdurchgänge à 300 Gäste pro Tag
Unten in der Küche dampften währenddessen 300 Liter Suppe in riesigen Kesseln. Oder 30 Liter Soße. Klöpfer erinnert sich schmunzelnd daran, dass bisweilen rund 300 Eier für einen Frühstücksdurchgang gekocht werden mussten. Denn gegessen wurde im Kulturhaus in drei Durchgängen à 300 Gäste. Morgens und abends am Buffet, mittags standen drei oder vier Gerichte zur Auswahl. Am liebsten aßen die Feriengäste, so verrät Klöpfer, Hefeklöße oder Schnitzel. „Wer so oft Hefeklöße mit 60 Eiern zubereitet hat, verlernt irgendwann, für zwei zu kochen“, scherzt die heute 68-Jährige.

War der Feriengast satt, ging er entweder an den Strand oder zu dem vor allem sportlich geprägten Freizeitangebot. „Das reichte vom Frühsport über Volleyball bis Boccia“, erklärt Spohler. „Alles nach dem Motto ‚Mach mit, bleib fit‘.“ So wurde 1971 der Sportgarten an der Promenade eröffnet, für den das Kollektiv der Abteilung „Kultur und Sport“ der IG Wismut zuständig war. „Mit Minigolfanlage, Riesenschach, Shuffleboard, Stockschießbahn und Galgenkegelanlage“. 1973 gab es bereits zwei Sporthallen in Zinnowitz.
Gut zehn Jahre später, zwischen 1981 bis 1985, wurden 3.840 Sportveranstaltungen mit 138.981 Teilnehmern verzeichnet. Auch für das Kinderprogramm dachte sich die Wismut etwas aus: Sie eröffnete 1973 den großen Spielplatz an der Strandpromenade, der sich dort noch heute in etwas veränderter Form wiederfindet. Die markante Sputnikrutsche und einige Wipptiere blieben erhalten.
Fernsehschwänke, Indianerfilme und Schlagerstars – im Kulturhaus war immer was los
Der Abend kam, und mit ihm im wahrsten Sinne des Wortes großes Kino: Das Kulturhaus öffnete seinen Kinosaal für die Kumpel und zeigte DEFA-Filme wie „Die gefrorenen Blitze“, die DDR-Indianerfilme, die beliebten Olsenbande-Filme aus Dänemark und bekannte französisch-italienische Produktionen. Der Eintritt kostete 1,05 Mark und war somit für jeden erschwinglich, auch für Einheimische. Und es gab auch Theatervorstellungen der Theater Anklam und Greifswald. „Künstler von Rang und Namen traten im Kulturhaus auf. Auch die beliebten Fernsehschwänke des DDR-Fernsehens mit Stargästen wurden hier aufgenommen“, erzählt Klöpfer. Manche davon sind heute noch als Wiederholung im MDR zu sehen.
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In den Sommermonaten gastierten die großen Stars der DDR-Musikszene
Solisten der Mailänder Scala traten ebenso auf der Kulturhausbühne auf wie der Dresdner Kreuzchor. Exotische Gäste waren das Nationalensemble Indien oder das Staatliche Ensemble Niger. Gerade in den 1980er-Jahren gastierten hier in den Sommermonaten die großen Stars der DDR-Musikszene wie die Puhdys, Silly oder Stern Meissen.
Die lokale Bandlegende Echo 71 hatte im Kulturhaus 1971 ihren ersten Auftritt. „Die Bengels mit den Radaubrettern“, wie die Musiker wegen ihrer E-Gitarren genannt wurden, konnten mit ihren schmissigen Melodien locker bis zu 2.000 Feriengäste unterhalten. Ihre Beliebtheit führte dazu, dass sie damalige Musikgrößen wie Peter Wieland, Lutz Jahoda, Jonny Hill und Siegfried Uhlenbrock begleiten durften.

Die Band, die sich Anfang der 1980er-Jahre trennte, feiert zur Zeit ihr Comeback. Knapp 100 Lieder hat die Senioren-Combo mit Sänger und DJ Carsten Schmidt aus Zinnowitz als Frontmann auf dem Kasten. Nach der Saison 1987 wurde das Kulturhaus geschlossen, eigentlich zum Zwecke der Sanierung. Für 1992 war die Wiedereröffnung geplant, doch die Wende kam dazwischen. Nach vielen Jahren des Verfalls ist auf dem Areal des Kulturhauses nun die Einrichtung von 86 Wohnungen und einem Wellnesskomplex vorgesehen. Die Fassade des denkmalgeschützten Gebäudes soll dabei erhalten werden.
Nachtschwärmer trafen sich damals in der Tanzbar
Als sich die wilden 1970er dem Ende neigten, wechselte Silvia Klöpfer vom Kulturhaus zum Ferienheim „Roter Oktober“. Noch heute beherrscht die Silhouette des „Hotel Baltic“ die Strandpromenade, seine Umrisse sind schon bei der Anreise nach Zinnowitz von der B111 aus zu sehen. Ende der 1970er-Jahre war der monumentale Bau das größte Ferienobjekt der Wismut:
„Am Tag des Bergmannes, dem 1. Juli 1977, eröffnete Harry Tisch als Mitglied des Politbüros des ZK der SED und Vorsitzender des Bundesvorstandes des FDGB, das Ferienheim ‚Roter Oktober‘“, schreibt Spohler in "Zinnowitz. Ein Fotoalbum". Und weiter: „Das Haus mit 950 Betten war damals das größte und modernste Ferienheim der Wismut auf der Insel. Hier gab es Verkaufsstellen, eine Nebenstelle des Reisebüros der DDR, eine Post, einen Frisiersalon, Kosmetikeinrichtungen, Räume für Kinderbetreuung und Sportmöglichkeiten.“
Und es gab eine Tanzbar, für alle Nachtschwärmer unter den Zinnowitzer Feriengästen und Einheimischen. Wie Speisekarten aus den 1980er-Jahre zeigen, konnten sie sich hier auch vortrefflich stärken. Der FDGB sorgte dafür, dass es beim Essen und Trinken an nichts fehlte. Für den kleinen Hunger etwa mit zwei halben Eiern mit Remoulade und Kaviar, dazu Toast zu 2,70 Mark. Üppiger fiel schon das Schweinesteak mit Würzfleisch überbacken, mit Pommes, Salat zu 4,95 Mark aus.
Das Bier für 63 Pfennig konnte sich jeder leisten, beim Cabernet aus Bulgarien, dem „Goldenen Nektar“ aus Ungarn oder gar dem italienischen Solo Vino musste man schon tiefer in die Tasche greifen (etwa 8 bis 12 Mark). Satt und hoffentlich zufrieden war der Feriengast dann, wenn sich beim Genuss des Toasts „Glück auf“ der Kreis schloss.
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Heute kommen Urlauber aus der ganzen Welt nach Zinnowitz
Zinnowitz, das sollte schon zu DDR-Zeiten ein Badeort sein, der keine Wünsche offen ließ. Zumindest, wenn man einen Ferienscheck ergattern konnte. In den 1980ern gab es hier 62 Ferienheime. Aus den 50.000 Badegästen von 1965 wurden über 110.000 Urlauber im Jahr 1988 – bei etwas mehr als 4.000 Einwohnern.
Heute zählt der Ort jährlich knapp eine Million Übernachtungen. Die Feriengäste kommen aus der ganzen Welt. Sie schlendern über die Promenade, bewundern die Bäderarchitektur und genießen ein Päuschen im schattigen Kulturhauspark. Und wenn sie dann noch Zeit für einen Besuch im Zinnowitzer Heimatmuseum haben, staunen sie über die bewegte Vergangenheit des Ostseeortes als „Badewanne der Kumpel“.