Pommern
▶ Digitales Archiv bewahrt Volkslieder vor dem Vergessen
Greifswald / Lesedauer: 5 min

Dajana Richter
„So alleine wandelst du, schon ist Mitternacht vorüber, Regenwolken ziehn vorüber und du wandelst hier allein.“ So beginnt die herzergreifende Ballade, in der eine Geisterbraut ihren ehemaligen Geliebten zu sich ins Grab holt: „Sieh, Luise steht vor dir, die du dir zur Braut erwählet. Nun hat uns der Tod vermählet, komm und schlummere nur bei mir.“
Kisten auf einem Dachboden gefunden
Dieses Lied trägt den Titel „So alleine wandelst du“ und ist nur eines von etwa 14.000 Volks- und Tanzliedern, die momentan vom Greifswalder Universitätsarchiv nach und nach digitalisiert werden. Zum einen, um sie vor dem Vergessen zu bewahren und zum anderen, um sie für die Allgemeinheit leicht zugänglich zu machen. Alle diese Texte gehören zum Pommerschen Volksliedarchiv. Viele Jahre galt es als verschollen. Erst 2014 gelang dem Universitätsarchiv die Wiederentdeckung und Bergung auf einem Dachboden.
In den Kisten stapelten sich Berge aus handschriftlichen Notizen, Briefen und Notenblättern, die zunächst nach ihren Signaturen sortiert werden mussten. „Erst im Rahmen der Erschließung wurde den Kollegen klar, worum es sich bei dem Material handelte – und dass sie damit eine Art Schatz gefunden hatten, denn gerade Musikalien und Traditionen aus Pommern sind noch relativ unbekannt“, ordnet Sarah Jost den Fund ein. Sie ist Mitarbeiterin des Universitätsarchivs und seit dem vergangenen Jahr für die Digitalisierung der Volkslieder verantwortlich.
1600 Volkslieder zusammengetragen
Im Jahr 1926 übernahm das Pommersche Volksliedarchiv in Greifswald die Aufgabe der systematischen Sammlung von Volksliedern. Als Initiator und wissenschaftlicher Mentor gilt dabei vor allem der Hochschuldozent Lutz Mackensen, der sich zu dieser Zeit auch für das Fach Volkskunde mit Pommern als regionalgeschichtlichem Schwerpunkt an der Universität Greifswald eingesetzt hatte. Er war es auch, der eine Arbeitsgruppe gründete, die etwa 1.600 pommersche Volkslieder zusammentragen konnte.
Des weiteren wurde regelmäßig in Zeitungen dazu aufgerufen, bekannte Lieder an das Archiv zu senden – mit großem Erfolg. Die Einsendungen kamen aus etwa 450 pommerschen Orten sowie aus allen Schichten und Altersstufen der Bevölkerung. Doch schon um 1938 kam die Sammelarbeit fast völlig zum Erliegen.
MP3-Dateien zu etlichen Liedern geplant
Bis jetzt kam Sarah Jost mit dem Digitalisieren gut voran. „Wir haben erst einmal nur die Datensätze zu den Liedern erschlossen, also die erste Strophe eines Liedes und wer aus welchem Ort wann die Texte eingeschickt hat. Bislang sind das über 5.100 Lieder. Ziel ist es, auch die Original-Seiten zu scannen und diese für Interessierte online nutzbar zu machen“, erklärt die Archivarin. Die Musikstudenten der Universität Greifswald sollen die Lieder zudem vertonen, sodass auch mp3-Dateien zu den jeweiligen Texten auf die Webseite gestellt werden können.
Die Region Pommern war in der Wissenschaft lange ein grauer Bereich. „Die volkskundliche Forschung für Pommern ist wirklich erst ganz am Anfang, denn sie lag über viele Jahre brach“, erklärt Dorota Makrutzki, Kulturreferentin für Pommern und Ostbrandenburg am Pommerschen Landesmuseum. Ab 1947 gab es Pommern nach dem politischen Willen nicht mehr, der Name wurde bis zur Wende regelrecht geächtet.
Wachsendes Interesse an pommerscher Kultur
Mittlerweile gibt es aber ein wachsendes Interesse an der pommerschen Kultur, gerade was die musikalischen Traditionen betrifft – auch auf polnischer Seite. „Ich habe im Archiv des Pommerschen Landesmuseums nach Fotografien gesucht, wo Musiker oder Situationen aus dem privaten Bereich abgebildet sind und wo Menschen singen, tanzen oder spielen. Doch ich habe dazu lediglich zwei Fotos gefunden. Da fehlt es uns wirklich an Material, denn aus solchen Bildern lässt sich sehr viel ablesen“, sagt Makrutzki. „Deshalb finde ich es sehr wichtig, dass wir uns mehr vernetzen. Und das Pommersche Volksliedarchiv bietet noch mal Ansporn dazu.“
Um dieses Lied-Archiv und dessen Online-Präsenz einem breiteren Publikum bekannt zu machen, konnten deutsche und polnische Musiker gewonnen werden, die jeweils ein Lied aus der Sammlung auswählten und teilweise ganz neu interpretierten. Festgehalten wurden die Ergebnisse in vier Videos, die sowohl auf der Archiv-Homepage als auch auf Youtube zu finden sind.
Einige Künstler griffen dabei zur Geige, andere zu Balginstrumenten. Wolfgang Meyering arrangierte beispielsweise das Stück „Ritter Oluf“ neu und verlieh dem Song mit Mandola und Percussion fast schon einen rockigen Charakter. „Die Lieder sollen Neugier wecken, denn sie sind einfach zu schön, um sie wieder dem Vergessen preiszugeben“, so Sarah Jost. Außerdem: Wenn man Traditionen nicht bewahrt, dann sind sie irgendwann weg – und damit auch ein Stück der eigenen Identität.
Schatz soll nicht im Archiv „verstauben”
Es gibt auch Ideen, die wiederentdeckten Lieder – und damit auch das digitale Archiv – durch Konzerte und Tanzveranstaltungen bekannter zu machen. „Ich bin in Gesprächen mit verschiedenen Organisationen, sowohl auf der deutschen als auch der polnischen Seite. Und es gibt sehr viele Initiativen im Tanz-, Sprach- und Musikbereich. Aber es ist noch zu früh, da etwas konkret anzukündigen“, erklärt Dorota Makrutzki.
Wie groß ist eigentlich die Angst, dass die Daten durch die Digitalisierung zwar gesichert sind, aber das Interesse der nachfolgenden Generationen an den Liedern verloren geht? „Als ich mit dem Projekt angefangen habe, hatte ich schon ein wenig diese Angst“, gesteht Sarah Jost. „Aber im Laufe der Arbeit, und auch durch die Zusammenarbeit mit den studentischen Hilfskräften, habe ich von vielen Seiten ein großes Interesse bemerkt.“
Bitte um weitere Mithilfe
Ein Kollege würde beispielsweise in einer Band spielen, die eigentlich nichts mit Volksliedern am Hut hat. Doch er hätte schon Lieder aus dem Archiv umgeschrieben und modernisiert. „Es ist halt mal etwas ganz anderes, etwas, das man so nicht kennt“, so Jost.
Wer in seinen alten Fotoalben noch Bilder aus Pommern entdeckt, auf denen getanzt, gesungen oder auch musiziert wird, der kann sich gern mit Dorota Makrutzki in Verbindung setzen, per E-Mail an [email protected].
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