Egon Richter

Eine große Familie, nah am Volk

Bansin / Lesedauer: 8 min

Das Kaiserbad Bansin auf Usedom. Der Bahnhof: zwei Gleise, das eine Richtung polnische Grenze, das andere Richtung Wolgast. Ein lang gestrecktes Gebäude in Eierschalenbeige. Drei Blumentöpfe mit roten Geranien, ein rotes Ziegeldach. Hier beginnt die Seestraße mit Hotels, Geschäften und Baustellen.
Veröffentlicht:24.11.2007, 11:45
Aktualisiert:28.12.2021, 15:01

Von:
Artikel teilen:

Das Kaiserbad Bansin auf Usedom. Der Bahnhof: zwei Gleise, das eine Richtung polnische Grenze, das andere Richtung Wolgast. Ein lang gestrecktes Gebäude in Eierschalenbeige. Drei Blumentöpfe mit roten Geranien, ein rotes Ziegeldach. Hier beginnt die Seestraße mit Hotels, Geschäften und Baustellen. Am Ende die Seebrücke, der Strand. Die Strandkörbe sind zur Sonne ausgerichtet, wirken wie Hühner auf der Stange, sind rot-weiß und blau-weiß gestreift. Ein braunes Fischerboot liegt am Strand, daneben der Beobachtungspunkt 9, die Strandkorbvermietung mit Bockwurst, Bier und Buletten. An der Ecke noch ein Hauch der alten Kolonnaden. Ein kleines Restaurant "Fischers Fritz".

Schwere gusseiserne Stühle auf der Terrasse. Ein betörender Duft nach Bratkartoffeln. Egon Richter wartet hier. Egon Richter, Journalist und Schriftsteller, ist der Neffe von Hans Werner Richter. Vor ihm auf blau durchlöcherter Plastikdecke die "Geschichten aus Bansin" von Hans Werner Richter.

"Die Strassen des Ortes, in dem mein Vater lebte, bilden ein Kreuz. Die längere Seestrasse läuft von Süden nach Norden, die kürzere Bergstrasse von Westen nach Osten. Sie schneidet die Seestrasse in ihrer oberen Hälfte. Die Seestrasse beginnt im Süden am Bahnhof und läuft nach Norden bis ans Meer. Ein weißer Gürtel hält sie dort auf: der Strand. Das Meer besitzt einen sandig- hellen Untergrund, läuft flach von der Küste weg zu größeren Tiefen hin, ist milde salzhaltig, und sieht in der Sonne blau, bei Gewitter grün, bei Sturm weiß und in der Nacht schwarz aus."

Egon Richter nickt, die Augen hinter der Brille sind kaum erkennbar. Für ihn sind die beiden Straßenzüge Musterbeispiele für die Bäderarchitektur. Richter reflektiert über Vergangenheit und Gegenwart. Er war 1978 Heine-Preisträger der DDR. Bis heute die größte

Ehrung und auch Verpflichtung, immer wieder hinter die Dinge zu schauen, an die Verbesserungsbedürftigkeit der Gesellschaft zu erinnern. Richter sieht aus wie sein Onkel, das breite Gesicht, die graue Mähne, der graue Bart.

Unvergessen sind die Begegnungen mit Hans Werner Richter, mit seinen Romanen, Erzählungen. Und dann auch noch ein Film, in der DDR Tabu, ein Film, in dem Möwen über Grenzen fliegen. Den hat er in dem eigentlichen Ferienhaus von Erich Mielke gesehen. "Das war schon eine abstruse Situation", lacht er. "Und ich fand ihn gut. Nun ja, die Möwen fliegen auch heute noch, wohin sie wollen." Richter steht auf, geht in Richtung Strand. Eine gedrungene Figur, die immer kleiner wird. Möwen um ihn herum, Möwen auf dem Weg zur Seebrücke. Das Seebäderschiff "Dania" legt gerade an. Touristen versprechen Futter.

Der Herr über zweimal 2000 PS, Kapitän Heinz Arendt, gehört auch zum Usedomer Richter-Clan. Seine Frau ist die Großcousine von Hans Werner. Er erinnert sich an seine Oma, die im Roman "Spuren im Sand" mitspielt. In der DDR ausgerichtet auf eine Linie, den Marxismus-Leninismus, waren solche literarischen Strömungen interessant. Immer wieder, erinnert er sich, hat die Familie über die Gruppe 47 diskutiert. Arendt streicht durch sein graues, gepflegtes Haar. Die Uniform ist dunkel, darunter ein weißes Hemd, der erste Knopf geöffnet. Die "Dania" nimmt Fahrt auf in Richtung Swinemünde, an Bord 604 Passagiere, Ausflügler, Billigeinkäufer. Auf der Brücke neben modernster Elektronik ein Stück Vergangenheit, ein blauer Einband, ein Kind planscht im Meer, der Roman "Spuren im Sand" - Erinnerung an Richters Jugend, an die Jobsuche, an den Verkauf von Andenken auf Ausflugschiffen.

"Ich ging zur See. Die Firma Schuster und Söhne in Stettin suchte junge Buchhändler für ihre Passagierdampfer, und ich fuhr nach Stettin und wurde eingestellt. Die ,Freya war ein alter Raddampfer, und sie schaufelte durch die Ostsee von Swinemünde nach Rügen und von Rügen nach Swinemünde. Die Passagiere, die sie hin- und zurückbrachte, waren ausschließlich Sachsen, die verzückte Postkarten nach Hause schrieben und darauf von Stürmen und Seenot träumten, um ihren Verwandten in Chemnitz und Leipzig zu imponieren. Aber die Ostsee war fast immer ruhig, still und besonnen."

Arendt grinst, spricht von dichterischer Freiheit, denn die Ostsee hat es in sich. Und er kennt sie wie sein zweites Zuhause. Zu DDR-Zeiten bei den "bewaffneten Organen" und jetzt auf kleiner See mit Ausflugsschiffen.

In den letzten Sommerperioden, erinnert er sich, ist der Wind immer heftiger geworden, fast wochenlang hoher Nordost. "Die See drückt dann", sagt er, "zunächst das Wasser rein und dann stehen die Strandkörbe so schön friedlich, wie sie sind, doch schon unter Wasser und die Wellenhöhe beträgt dann schon im Schnitt um die zwei, drei Meter." Heute nur sanftes Schaukeln, das Promenadendeck ist voll, 175 Sonnenhungrige, unter Deck noch mal 300, die eine Seefahrt lustig finden. Aus dem Dunst tauchen die Seebrücken auf, die Küstenlinie mit der wunderschönen alten Seebäderarchitektur. Geboren ist Arendt in Sallenthin, "wo auch der alte Richter geboren ist". Er blickt hinüber nach Bansin, wo sein Vater Fischer war. Bansin ist seine Heimat.

Am Strand üben Trampolinspringer, die Rostbratwurst ist Dauerbrenner, Hunde hecheln, hetzen, keifen. Bei "Fischers Fritz" ist Steinbutt mit Pfifferlingen der Tagesrenner. Am Tisch mit der blaudurchlöcherten Plastikdecke und den sturmstandhaften gusseisernen Stühlen wartet Joachim Richter. Der Schriftsteller war sein Großonkel. Der Name Richter hat hier eine besondere Bedeutung, steht für die Nähe zum Volk, ohne Eigennutz immer etwas geben, das ist sein Wahlspruch, deshalb macht er heute Politik für "Fischköppe". Der 48-Jährige ist ein Bild von Mann: 1,92 Meter groß, massiv, graues Safarihemd, gepflegter, gestutzter Vollbart. Heute ist er Bürgervorsteher, Realität bei ihm, Traum bei Hans Werner Richter.

"Der Gemeindevorsteher Ex empfing uns. Er nahm sein goldgefasstes Pincenez ab, legte es vor sich auf den Schreibtisch und sah mich lange prüfend an. Er trug einen weißen Flanellanzug und eine goldene Uhrenkette auf der Weste, er sah dick, bärtig und vornehm aus. Er sagte dreimal hintereinander ,mein Sohn zu mir, und ich dachte, ich bin ja gar nicht dein Sohn."

Joachim Richter lacht. Wer heute hier oben auf der Insel überdreht ist, auffällt, gilt als total abgedreht, als arrogant. Richter nimmt das Bändchen seines Großonkels, geht. Er kommt kaum voran, immer wieder muss er stehen bleiben, wird angesprochen, redet, antwortet. Der Mann ist bekannt, beliebt, geachtet.

Fahrt von Bansin nach Benz. Der Schmollensee mit einem verspielten, sanften Blau, das Achterwasser als raue Schönheit. Braun-weiß gefleckte Kühe, Kopfsteinpflaster, die Stille des Hinterlandes. Dann der kleine Ort Benz. Bilderbuch der Beschaulichkeit und Ruhe. 200 Einwohner, Bauernhäuser, Scheunen mit Lehmfachwerk und Rohrdächern. Hier kommt es zum Treffen mit Pastor Martin Bartels. Der pensionierte Theologe ist Kenner der Inselgeschichte, der Kunstszene. Am 29. Juli 1986 sorgte er für eine Sensation, organisierte eine Lesung mit Hans Werner Richter in der Benzer Kirche. Pastor Bartels geht in seine alte Kirche St. Peter. Eine gewölbte Holzdecke, Sternenkassetten in Blau-Weiß. Auf der Kirchenbank liegt der Band "Reisen durch meine Zeit", der Einband ein Richterportät von Nils Borwitz.

"Ich wagte nicht, aufzusehen. Überall Gesichter, bekannte und unbekannte, die Kirche war übervoll. Es gab keinen freien Platz, auch die Empore war besetzt. Immer noch wurden Stühle hereingetragen, jeder freie Platz wurde mit Stühlen ausgefüllt. Es kam mir vor, als hätte sich der ganze Landkreis versammelt, alle, die um viele Ecken herum mit mir verwandt waren. Sie waren aus den umliegenden Dörfern gekommen, Sellin, Sallenthin, Neppermin, Bansin. Aber auch andere, von denen ich nichts wusste und die ich nicht kannte."

Das waren dann wohl die Allmächtigen der Staatssicherheit. Martin Bartels geht hinaus in den Pfarrgarten, atmet durch, setzt ein sanftes Erinnerungslächeln auf. Der Garten ist pure Idylle, kein Nutzgarten, sondern Natur. Wilder Rasen, Holzblöcke fürs Grillen oder fürs Lagerfeuer, Blutbuchen, Haselnussbäume, ein alte Quitte. Hinter Sträuchern verborgen wunderschöne Plastiken von Inselkünstlern: Peter Makolies, Matthias Wegehaupt. Ein Relief von Otto Niemeier-Holstein. Die Erinnerung ist gegenwärtig, vor allem an Richter und die Gruppe 47, die nur er fesseln konnte. Bartels und er konnten das Leben genießen "und das haben wir dann auch oft zusammen getan bei Räucherfisch-Essen oder Schönem-Rotwein-Trinken." Bartels nimmt sich noch einmal die Erzählung vom "Bruder Martin", liest.

"So saßen wir fast um Mitternacht noch einmal in der Kirche. Es ist ein unheimliches Gefühl, die leere Kirche und nur wir drei, vier Zuhörer. Dort, wo ich gelesen hatte, stand nun der Flötist und spielte Telemann, und die Töne fielen in die Stille der Nacht, und füllten die Kirche. Ich wusste, dieses Flötenkonzert war ein Abschiedsgeschenk für mich. Bruder Martin hatte es sich ausgedacht."

Martin Bartels ist Bruder Martin. Er holt tief Luft in seinem Garten. Klee und Gänseblümchen als Naturteppich. Ein würziger Duft nach Linden und Buchen. Eine Drossel ruft, Buchfinken antworten.

Zu hören ist die Reportage "Bansin auf Usedom - Geschichten aus Bansin" am 25. November in der 12-teiligen Reihe "Literarische Plätze" um 13.05 Uhr auf Deutschlandradio Kultur. Sie empfangen Deutschlandradio Kultur rund um Neubrandenburg und Neustrelitz auf 97,1 MHz sowie im Digitalradio. Alle Frequenzen und die Reportage zum Nachlesen auf @!www.dradio.de