Ersatzmutter für über 50 Kinder – wie geht das?
Vorpommern / Lesedauer: 9 min

Jedes Kind sollte gut behütet in der eigenen Familie aufwachsen dürfen. Wenn das nicht klappt, übernehmen Pflegeeltern wie Sandra Lindemann aus Pasewalk die Betreuung. Über 50 Kinder hatte die 44-Jährige bereits in ihrer Obhut. Im Interview spricht sie über ihre Erfahrungen, auch im Umgang mit den leiblichen Eltern ihrer Pflegekinder.
Seit wann sind Sie als Pflegemutter im Einsatz und wie kam es zu dieser Entscheidung?
Ich habe mich 1997 beim Jugendamt in Strasburg als Pflegemutter angemeldet, da war ich gerade 20 Jahre alt. Ich bin hier im Dorf groß geworden und habe schon immer auf kleine Kinder aufgepasst. Und ich wusste, dass auch mein beruflicher Weg in Richtung Kinderbetreuung oder Ähnliches gehen soll. Die Dame beim Jugendamt war erst skeptisch und meinte, ich sollte erst einmal mein eigenes Leben leben. Aber ich wusste, was ich wollte. Ich habe damals noch bei meinen Eltern gewohnt, hatte aber im Haus meine eigene Wohnung.
Am Anfang habe ich – in einer Art Probephase – nur Kurzzeitpflege gemacht, das heißt, man hat die Kinder nur maximal ein Vierteljahr bei sich. Erst 2001, als ich schon mit meinem Mann zusammenlebte, kam unsere Älteste als erstes Dauerpflegekind zu uns. Sie war erst sechs Monate alt, mittlerweile ist sie 21 und geht ihren eigenen Weg.
Haben Sie auch eigene Kinder?
Ja. Wir haben einen Sohn, der gerade zum Studium nach Eberswalde gegangen ist, und eine 16-jährige Tochter.
Wie viele Kinder leben aktuell bei Ihnen?
Derzeit sind es vier Kinder. Neben unserer Tochter sind das zum einen Anna* und Leon*. Anna war zunächst nur an jedem zweiten Wochenende bei uns, dann haben wir als Familie zusammen entschieden, sie zur Dauerpflege aufzunehmen. Das war 2014, da war sie fast zwei Jahre alt. Und Leon kam mit zwei Monaten über die Bereitschaftspflege zu uns und blieb dann auch als Dauerpflegekind. Mittlerweile ist er zwei Jahre alt. Zum anderen wohnt gerade noch Hannes* bei uns, allerdings nur im Rahmen der Bereitschaftspflege. Er ist fünf Monate alt.

Was genau bedeutet Bereitschaftspflege?
Da muss in Notfallsituationen von jetzt auf gleich ein Kind untergebracht werden. So kann es auch sein, dass man mitten in der Nacht angerufen wird, weil man ein Kind abholen soll oder es gleich gebracht wird. 2015 haben wir uns dazu entschlossen, auch die Bereitschaftspflege mit zwei Plätzen zu übernehmen und hatten bis heute über 50 Kinder in unserer Obhut.
Wie lange sind die Kinder in der Bereitschaftspflege durchschnittlich bei Ihnen?
Das ist unterschiedlich. In der Kurzzeitpflege sind es bis zu drei Monate. Bei der Inobhutnahme im Rahmen der Bereitschaftspflege sollte es nur so kurz wie notwendig sein. Aber Hannes ist schon fast ein Vierteljahr bei uns.
Es kann aber auch sein, dass die Kinder nur ein oder zwei Nächte bei Ihnen bleiben?
Ja, das hatten wir auch schon. Aber es ist schwierig Leute zu finden, die Kinder bei sich aufnehmen. Ich weiß nicht, woran das liegt, ob sie zu wenig Informationen darüber haben. Aber wer Interesse hat und zum Jugendamt hingeht, der bekommt ausreichend Informationen. Und es gibt auch viele Angebote für Schulungen zu unterschiedlichsten Themen, die man wahrnehmen kann.
Warum haben Sie damals nicht den Beruf der Erzieherin ergriffen?
Ich hatte zunächst Kinderpflegerin gelernt, musste das aber aufgrund einer Krankheit abbrechen. Aus der Not heraus, um überhaupt eine Ausbildung zu haben, habe ich dann Verkäuferin gelernt und auch eine Weile in diesem Beruf gearbeitet. Aber es war nicht das Richtige für mich. Dann haben wir beschlossen, dass mein Mann zur Arbeit geht und ich zu Hause bei den Kindern bleibe. Anders würde das jetzt auch nicht funktionieren, denn bei der Bereitschaftspflege muss ich 24 Stunden am Tag zur Verfügung stehen. Bei der Dauerpflege ist das anders. Da kann man ganz normal seiner Arbeit nachgehen. So war das bei unserer Großen auch. Da haben mein Mann und ich beide gearbeitet und sie wurde von einer Tagesmutter betreut.
Ist das im Alltag auch mal schwierig, was den Umgang mit den leiblichen und den Pflegekindern betrifft? Trennt man das?
Trennen kann man das nicht, darf man auch gar nicht. Man muss die Pflegekinder gleich mit in den Alltag integrieren. Und man kann das nur machen, wenn man mit vollem Herzen dabei ist.
Mussten Sie erst lernen, Ihr Herz nicht zu sehr an die Kinder zu hängen, besonders wenn sie nur eine kurze Zeit bei Ihnen leben?
Man darf die Kinder auf keinen Fall auf Distanz halten, sondern man muss ihnen viel Liebe und Zeit geben. Aber es ist schon komisch, wenn sie wieder gehen. Der Abschied muss dann auch kurz und knapp sein. Manchmal haben wir Kinder bei uns, wo ich mich frage, ob wir sie nicht auch dauerhaft bei uns aufnehmen könnten. Aber dann muss ich realistisch sein und mir eingestehen, dass ich nicht jeden retten kann.
Erkundigen Sie sich später noch nach Kindern, die Ihnen besonders ans Herz gewachsen sind?
Na klar. Ich habe schon öfter beim Jugendamt nachgefragt. Man bekommt zwar keine Details erzählt, das ist mir auch nicht wichtig. Hauptsache ich weiß, dass es ihnen gut geht.
Dauerpflegekinder bleiben häufig ihre gesamte Kindheit bei der Pflegefamilie. Trotzdem gelten sie nicht als adoptiert. Wie gehen Sie damit emotional um?
Wir mussten erst lernen damit umzugehen, dass das Kind nicht uns gehört. Klar, wir ziehen es auf, wir lieben es. Wir versuchen ihm eine Perspektive für das spätere Leben zu schaffen. Aber trotzdem wissen wir, es gibt da noch die Eltern – und das erzählen wir den Kindern auch. Die müssen das wissen. Verheimlichen bringt da nichts, sie brauchen ihre eigene Identität. Außerdem ist es wichtig, dass die Kinder weiterhin Umgang mit ihren leiblichen Eltern haben.
Das heißt, bei den Kindern, die Sie in Dauerpflege haben oder hatten, gab es auch immer einen Kontakt zu den Eltern der Kinder?
Bei der Großen hörte der Kontakt zwischen ihr und ihrer Mutter auf. Die Mutter ist irgendwann nicht mehr gekommen. Mit dem Papa standen wir zunächst noch in Kontakt, dann zeitweise nicht mehr und schließlich haben wir erneut eine Annäherung gesucht. Er hat das gemacht, was er konnte.
Man muss diese Leute auch verstehen. Sie können oft nicht anders, obwohl sie ihre Kinder lieben. Aber sie schaffen es nicht sich wie „normale“ Eltern um ihre Kinder zu kümmern. Heute hat sie leider gar keinen Kontakt mehr zu ihren leiblichen Eltern. Bei unseren anderen Dauerpflegekindern läuft es aber deutlich besser.
Wissen die Eltern, wo genau ihre Kinder leben?
Ja, bei der Dauerpflege müssen sie das. So sind sie beruhigter und wissen, wo ihr Kind aufwächst. Dann können sie sich vielleicht auch eher damit abfinden, denn das ist für die meisten Eltern alles andere als einfach. Nur in der Bereitschaftspflege wollen wir das nicht.
Werden bei Ihnen nur Kinder aus der Region untergebracht?
Ich denke, das Jugendamt ist bestrebt, die Kinder so dicht wie möglich unterzubringen, damit auch der Kontakt zu den Eltern einfacher gehalten werden kann. Und sie sollen so gut es geht in ihrem sozialen Umfeld bleiben, um auch ihren gewohnten Alltag beibehalten zu können.
Sie versuchen also auch als Pflegeeltern, dass die Kinder weiter ihren Hobbys nachgehen können?
Auf jeden Fall. Unsere Anna geht zum Beispiel zum Reiten, hat Keyboard-Unterricht und ist bei der Feuerwehr. Bei der Bereitschaftspflege ist es schwieriger, gerade wenn die Kinder doch von etwas weiter weg kommen. Dann schaffe ich es nicht, sie zwei Mal die Woche zu ihrem Fußballverein zu fahren. Aber wir versuchen ihnen dann Alternativen hier bei uns in der Gegend anzubieten.
Gab es auch mal den Fall, dass Sie Probleme mit den leiblichen Eltern hatten oder Anfeindungen erfahren haben?
Bei der Bereitschaftspflege hatten wir das einmal, dass plötzlich Freunde von der Mutter vor unserer Tür standen. Deshalb ist es uns wichtig, dass in der Bereitschaftspflege nicht erwähnt wird, wo wir wohnen. Natürlich sind die Eltern uns am Anfang nicht immer freundlich zugewandt. Und diese Wut kann ich zum Teil auch verstehen. Aber meist funktioniert die Zusammenarbeit mit der Zeit wirklich gut.
Können Sie sich vorstellen, zukünftig noch weitere Dauerpflegekinder bei sich aufnehmen?
Auf jeden Fall, so lange mein Mann immer mitgeht. Für mich ist wichtig, dass er damit einverstanden ist, sonst würde das hier nicht funktionieren. Man muss an einem Strang ziehen, so wie in der Erziehung generell. Kinder brauchen ihre Regeln, Strukturen und Grenzen – egal ob es die leiblichen Kinder sind oder die Pflegekinder.
*Namen von der Redaktion geändert
Bemessung des Pflegegeldes
Folgende monatliche Pauschalbeträge in Euro im Kreis Vorpommern-Greifswald ab 1.1.2020.
Ab 2021 wird das Pflegegeld jährlich um 1,5 Prozent erhöht. Einmalige Beihilfen sind möglich.
AltersstufenSachkostenKosten der ErziehungGesamtbetragbis zum vollendetem 6. Lebensjahr504,00220,50724,50ab dem vollendeten 6. Lebensjahr bis zum vollendeten 12. Lebensjahr579,60220,50800,10ab dem vollendeten 12. Lebensjahr bis zum vollendeten 18. Lebensjahr638,10220,50858,60
Durch den pauschalen Sachaufwand werden folgende Bedarfe des Pflegekindes abgedeckt: Ernährung, Bekleidung, Schuhwerk, Körper- und Gesundheitspflege, Hausrat, Kranken- und Unfallversicherung (bei Bedarf), Schulbedarf, Kosten für Verbrauchsmaterial im Rahmen des Schulgesetzes, Fahraufwand des täglichen
Lebens, Unterhaltung, Spielzeug, Sport- und Freizeit, Internet- und Handykosten und Taschengeld (Orientierung bietet die Taschengeldrichtlinie des Landkreises
Vorpommern-Greifswald).
Mit dem Betrag der Kosten für die Erziehung sind der zeitliche Einsatz, das pädagogische Engagement und die erzieherische Leistung der Pflegepersonen abgegolten. Bei Altersstufenwechsel besteht Anspruch auf das höhere Pflegegeld ab dem 1. des Monats, in dem die jeweilige Altersstufe erreicht wird. Bei den materiellen Aufwendungen beträgt der Anteil für die kindbezogenen Kosten für Miete und Heizung für alle Altersgruppen 106,86 Euro.
Eine weitere Aufschlüsselung der Kosten für den Sachaufwand erfolgt nicht. Gemäß § 39 Abs. 6 SGB VIII ist das Kindergeld in Abzug zu bringen.
Bei erhöhtem erzieherischen Bedarf kann je nach Abstufung, der monatlichen Kostensatz für die Erziehung verdoppelt, verdrei- oder vervierfacht werden.
Quelle: Landkreis Vorpommern-Greifswald; Richtlinie Vollzeitpflege; kreis-vg.de; Stand: 01.01.2020;
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