Notfall-Medizin

Herzinfarkt in Grenznähe – Welches Krankenhaus ist jetzt das richtige?

Greifswald / Lesedauer: 5 min

Nicht nur in den Ballungszentren, sondern auch in den Grenzregionen ist es wichtig, dass Rettungsdienste die Patienten möglichst schnell erreichen.
Veröffentlicht:27.11.2022, 17:50

Von:
  • Ralph Sommer
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Urplötzlich verspürt der 72-jährige Radfahrer starke Schmerzen im Brustbereich. Dann bricht er zusammen, fällt auf dem Ostseeküstenradweg zwischen Heringsdorf und Ahlbeck vom Rad. Verdacht auf Herzinfarkt! Ein Szenario, wie es in den vergangenen Wochen mehr als 500 Rettungsärzte und -assistenten, Sanitäter, Krankenschwestern sowie Studenten aus Vorpommern, der Uckermark und der benachbarten polnischen Wojewodschaft Westpommern mit einem innovativen Tandem-Sprach- und Simulationstraining durchgespielt haben.

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Auch mit aktivem Einsatz: In einem Greifswalder Tagungszentrum laufen Grzegorz Czajkowski und Erik Manteufel zu einem am Boden liegenden Rettungs-Dummy. Sofort beginnen der Notarzt der Stettiner Universitätsklinik und der Greifswalder Medizinstudent mit dem Wiederbelebungstraining.

Während der deutsche Helfer die Herzdruckmassage übernimmt, bereitet der polnische Arzt die künstliche Beatmung vor. Man ruft sich Anweisungen und Hinweise in polnischer und deutscher Sprache zu. Jeder der beiden weiß genau, was gemeint, was als nächstes zu tun und zu entscheiden ist.

Gemeinsames Training bringt mehr als reine Sprachkurse

Aus dem gemeinsamen Simulationstraining würden die Teilnehmer mehr mitnehmen für künftige Einsätze als aus früheren einfachen deutsch-polnischen Sprachkursen, sagt Dr. Dorota Orsson, die selbst schon Einsätze in einem deutschen Rettungswagen begleitet hatte und jetzt an der Greifswalder Unimedizin das Förderprojekt „Mehrschichtige Ansätze zur grenzüberschreitenden Kommunikation und Kooperation“ (GeKoM) koordiniert.

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Ausnahmslos alle Teilnehmer hätten den streng praxisorientierten Kurs, der von der Reanimation über Erstversorgung und Anamnese bis zu Übergabe an die Notaufnahmen reichte, bestanden und entsprechende Zertifikate erhalten.

Nicht nur in den Ballungszentren, sondern auch in den Grenzregionen sei es wichtig, dass Rettungsmittel die Patienten möglichst schnell erreichten und sie zügig zur weiteren Versorgung in das nächstgelegene Krankenhaus gebracht würden, sagt Projektleiter Prof. Klaus Hahnenkamp. „Nun ist es an der Politik, nachhaltige Systemlösungen der beiden Nachbarländer zu erstellen, um eine grenzüberschreitende Notfalllösung zu ermöglichen.“

Schon das EU-Projekt InGRiP (Integrierter grenzüberschreitender Rettungsdienst Pomerania/Brandenburg), das von 2017 bis 2021 mit zirka zwei Millionen Euro gefördert wurde, habe wichtige Impulse zur Vernetzung von Rettungsdienststrukturen in der Region gegeben, sagt Jochen Schulte (SPD), Staatssekretär im Schweriner Ministerium für Wirtschaft, Infrastruktur, Tourismus und Arbeit.

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Für das noch bis Ende 2022 laufende Anschlussprogramm GeKoM seien nochmals knapp 1,4 Millionen Euro aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) für Bildungsaktivitäten zum grenzüberschreitenden Rettungswesen bereitgestellt worden.

Nicht nur Sprachbarriere, auch gegenseitige Befindlichkeiten

„Wir brauchen viel, viel mehr grenzüberschreitende Notfallrettung“, fordert der Greifswalder Gesundheitsökonom Prof. Steffen Fleßa. Er schätzt, dass derzeit gerade mal in etwa 100 Fällen pro Jahr Notfallpatienten über die Grenze zur Behandlung in ein nahegelegenes Krankenhaus gebracht würden. Es müssten viel mehr sein, wenn die Menschen immer zur schnellsten und bestmöglichen Notfallversorgung zugeführt würden.

„Grenzen töten, kosten sogar Menschenleben“, sagt Fleßa provokant. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die deutsch-polnische Grenze neu gezogen wurde, seien jahrzehntealte Rettungsstrukturen zusammengebrochen, weil zum Beispiel bestimmte Krankenhäuser nicht mehr erreichbar waren. „So blieb der DDR 1950 gar nichts anderes übrig, als zum Beispiel in Wolgast ein neues Krankenhaus zu bauen, um die Versorgung der Insel Usedom abzusichern.“

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Aber auch Grenzöffnungen könnten die medizinische Notfallversorgung mittelfristig gefährden, warnt der Experte. Denn gerade grenznahe Krankenhäuser könnten dann wegen abnehmender Patientenzahlen in finanzielle Schwierigkeiten geraten, etwa wenn sich die deutsche Bevölkerung im Osten von Usedom nach Swinemünde wenden würden. Deshalb müsse die Grenzöffnung gut und vernünftig gemanagt und von der Politik entsprechend begleitet werden.

Tatsächlich stehen der Nordfallmedizin über die Grenze hinweg noch zahlreiche Hindernisse im Wege. Neben Sprachbarrieren gilt es auch, interkulturelle Differenzen wie gegenseitige Befindlichkeiten zu überwinden. Mitunter würden deutsche Notfallpatienten generell darauf bestehen, in eine deutsche Klinik überführt zu werden, auch wenn dies aus medizinischer Sicht nicht empfehlenswert wäre.

Aber auch praktische Fragen bereiten den Rettungskräften Probleme: Dürfen zum Beispiel Rettungsfahrzeuge beim Einsatz im anderen Land mit Blaulicht und Martinshorn fahren? Welche Hilfsmaßnahmen dürfen sie ergreifen? Zudem gibt es dies- und jenseits der Grenze unterschiedliche Ausbildungen und Kompetenzen. So sollen angeblich polnische Retter mehr Medikamente verabreichen dürfen als deutsche.

Polnische Patienten werden an der Grenze „umgeladen“

Selbst versicherungstechnische Bestimmungen behindern den reibungslosen Rettungseinsatz, wie der Ärztliche Direktor am Asklepios Klinikum Uckermark in Schwedt, Prof. Rüdiger Heicappell, berichtet. „Bei uns ist zum Beispiel nicht geregelt, dass polnische Rettungswagen eine Haftpflichtversicherung bekommen, um nach Deutschland einzufahren“, sagt er. „Wir haben in der Region auf polnischer Seite eine große Unterversorgung, vor allem bei Schlaganfall- und Herzinsuffizienz-Fällen.“ Also würden die Patienten von polnischen Einsatzkräften bis zur Grenze gefahren und dann auf der Oderbrücke in deutsche Fahrzeuge umgeladen.

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Dass die polnischen Rettungsteams nicht ohne weiteres zu deutschen Kliniken gelangen können, habe weitere negative Konsequenzen, sagt Heicapell. „Statt einen Patienten in die nur fünf Minuten Fahrtzeit entfernte Klinik zu bringen, müssen wir dann über 80 Kilometer nach Stettin fahren. Das kostet wertvolle Zeit und im schlimmsten Fall Menschenleben – ein unzumutbarer Zustand Ende 2022, in Zeiten eigentlich offener Grenzen.“

Darin sind sich die Experten einig: „Nach dem Pilotprojekten müssen wir jetzt in den Regelbetrieb kommen“, mahnt die Greifswalder Notärztin Dr. Marie-Luise Rübsam. „Wir brauchen verlässlich konstante Systemlösungen, die finanziell unterstützt werden müssen“, mahnt sie