Museum auf Usedom
Im S-Bahn-Takt über die Insel
Peenemünde / Lesedauer: 5 min

Hartmut Nieswandt
Peenemünde. Wer würde auf die Idee kommen, auf die Insel Usedom zu fahren, um sich über das deutsche S-Bahn-Netz Nummer drei zu informieren? Dass die zweitgrößte deutsche Insel nicht nur mit Sonne satt, Ostsee, und Strand lockt, weiß man. Denn was sich hinter den Begriffen V1, V2 und Heeresversuchsanstalt verbirgt, ist inzwischen bekannt: Hier ganz im Norden der Insel schrieben die Nationalsozialisten ein weiteres schlimmes Kapitel ihrer Geschichte.
Ab 1936 erlangte der Ort seine unrühmliche Bedeutung. Die Nationalsozialisten ließen hier die Heeresversuchsanstalt zur Entwicklung von Großraketen für militärische Zwecke errichten, zu der ab 1943 auch ein KZ-Außenlager gehörte. Das gesamte Gebiet am so genannten Peenemünder Haken wurde der Wehrmacht unterstellt, die Zivilbevölkerung ausgesiedelt. Zur eindringlichen Erinnerung daran wurde in Peenemünde das Historisch-Technische Museum aufgebaut.
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Wehrmacht baute Werkbahnnetz für den Personenverkehr
Und was hat das alles mit einem S-Bahn-Netz zu tun? Nach Kriegsbeginn baute die Wehrmacht ein Werkbahnnetz für den Personenverkehr auf, erwarb 15 elektrische Triebwagen. Am 28. Februar 1943 fand die erste Probefahrt statt, und die S-Bahn ging offiziell ab Juni in Betrieb. Die Einrichtung diente ausschließlich dem Transport von Angehörigen und Arbeitern der Versuchsanstalten. Denn die über 10 000 (!) Beschäftigten zur Arbeit zu bringen, bedeutete eine riesengroße Herausforderung.
So wurde Peenemünde nach Berlin und Hamburg der dritte Ort mit einem elektrischen S-Bahn-System. Das Schienennetz maß 106 Kilometer, 72 Kilometer waren elektrifiziert, es gab 12 Bahnhöfe und Haltepunkte. Den Strom für die Bahn erzeugte das riesige Steinkohlenkraftwerk in Peenemünde.
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Züge glichen der Baureihe 167 der Berliner S-Bahn
Wer sich im Peenemünder Museum heute den ehemaligen Triebzug 426 002/826 602 von damals ansieht, wird denken: Diese S-Bahn kommt mir mächtig bekannt vor. Richtig, denn die Züge glichen weitgehend der Baureihe 167 der Berliner S-Bahn. Am Bahnhof Karlshagen, wo die Fernzüge der Reichsbahn endeten, betrug die Zugfolge der S-Bahn bei Schichtwechsel wie in Berlin oder Hamburg auch fünf bis zehn Minuten. Am 21. April 1946 endete der S-Bahn-Betrieb. Die Rote Armee demontierte die Anlagen und verfrachtete sie teilweise in die Sowjetunion.
Einen Teil der Bahnen übergab die UdSSR später der DDR, sie verkehrten noch lange Jahre in Berlin. Außerhalb des Peenemünder Museums zeugen Bahntrassen und Bahnhöfe bis heute vom S-Bahn-Netz Nummer drei in Deutschland. Die heutige Bahn verkehrt nach wie vor auf historischen Anlagen, und Bahnsteige oder Betonsockel der einstigen elektrischen Oberleitung sind noch immer deutlich erkennbar.
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Die Geschichte des Ortes reicht bis ins Mittelalter zurück
Auch wenn V1, V2, die Heeresversuchsanstalt und Wernher von Braun Peenemünde weltberüchtigt und -berühmt machten, die Geschichte des Ortes reicht weit bis in das Mittelalter zurück. Das Dorf wurde in einer Urkunde des Herzogs Bogislaw IV. 1282 an die Stadt Wolgast verschenkt und damit erstmals urkundlich erwähnt und zählte zeitweise zu den größten Orten auf der Insel Usedom. Strategisch wichtig wurde Peenemünde im Dreißigjährigen Krieg durch die Errichtung der Schwedenschanze im Jahr 1630. Das diente der Kontrolle der Peenestrom-Mündung. Mitte des 19. Jahrhunderts war der Ort ein kleines Fischerdorf mit rund 500 Einwohnern.
Dass 1936 im beschaulichen Peenemünde eines der größten und schlimmsten Bauprojekte der Nationalsozialisten gestartet wurde, liegt an einem Zufall. Der Physiker Wernher von Braun sah sich 1935 zwischen Prora und Binz auf der Insel Rügen nach einem geeigneten Bauplatz für die Raketenversuchsanstalt um. Allerdings hatte sich schon die Organisation „Kraft durch Freude“ das Gelände einverleibt, dort wurde wenig später das „Seebad der 20 000“ aus dem Boden gestampft.
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Alternativplatz für die geheime Anlage zur Entwicklung der V2-Raketen
Jetzt musste schnell ein Alternativplatz für die geheime Anlage zur Entwicklung der V2-Raketen gefunden werden. Den entdeckte Wernher von Braun Anfang 1936 im Nordteil Usedoms – einem abgeschiedenen Gebiet mit freiem Schussfeld entlang der Pommerschen Küste. Allein das Kraftwerk Peenemünde steht heute noch für den Gigantismus der Nationalsozialisten. Ohne Zwangsarbeiter hätte das gesamte Projekt nicht gebaut werden können, 1941 wurden fast 4500 Bauarbeiter gezählt. Darunter polnische und tschechische „Vertragsarbeiter“ – eine Umschreibung für das Wort Zwangsarbeiter, an die heute im Peenemünder Museum erinnert wird. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gebiet um Peenemünde militärisch genutzt. Der Truppenstandort wurde erst 1993 aufgelöst.
Peenemünde bietet noch weitere Sehenswürdigkeiten
Zu den Sehenswürdigkeiten des Ortes zählen heute auch die „Phänomenta”, das Spielzeugmuseum und die Gedächtniskapelle für Gustav Adolf von Schweden. In der „Phänomenta”, dem Haus mit der markanten roten Fassade, gibt es auf 2 500 Quadratmetern 300 Stationen, an denen die Besucher in die faszinierende Welt physikalischer Phänomene und menschlicher Sinne eintauchen können. Im Hafen liegt ein ausgedientes russisches U-Boot der Baltischen Rotbannerflotte, das man besichtigen kann. Von hier aus kann man auch mit der Fähre nach Freest und Kröslin übersetzen oder Ausflugsfahrten zu den Inseln Ruden oder Greifswalder Oie unternehmen.