Hilfe
Kurz vor der Insel Usedom lernen diese Kinder, was eine Familie ist
Wolgast / Lesedauer: 8 min

Carina Göls
Der Vater knuddelt Ben*. Er strahlt vor Glück. Fünf ist er zu diesem Zeitpunkt. Es war einer der seltenen freudigen Momente in seiner Familie, der auf Foto gebannt ist. Das hängt nun an der Wand neben Bens Schreibtisch. Der steht nicht bei seinen Eltern, sondern im Kinderhaus „Nordlicht“ in Wolgast, kurz vo der Insel Usedom. Seit ein paar Monaten lebt der 8-jährige Ben dort, gemeinsam mit sechs anderen Mädchen und Jungen. Sie alle eint ein Leben in lieblosen Zeiten. Prügel, Vernachlässigung, Gewalt aller Art, aber auch die bedingungslose Liebe eines Kindes zu seinen Eltern haben sie in Not gebracht. So groß, dass Hilfe von außen nötig wurde.
Lesen Sie auch: Purer Stress auf Demmins Kinderstation
Im Kinderhaus „Nordlicht“ in Wolgast kann Ben gemeinsam mit anderen Kindern und Jugendlichen Abstand gewinnen. Hier leben seit mehr als zehn Jahren sozial benachteiligte Mädchen und Jungen in einer häuslichen familienähnlichen Gemeinschaft mit den Kinderdorfeltern. Manche bleiben nur ein paar Monate, andere Jahre. Ein Junge blieb zum Beispiel acht Jahre. Hausmutter Rita Bohn war der Junge „sehr ans Herz gewachsen“. Der Abschied fiel entsprechend schwer. „Das macht ja was mit einem“, sagt sie.
Wut auf die Eltern würde nichts nützen
Die Geborgenheit einer richtigen Familie haben ihre Schützlinge kaum erfahren. Nun sollen sie Zuwendung, Verständnis, Normalität spüren – oft zum ersten Mal in ihrem Leben. „Von den Eltern, der eigenen Familie, zu der sie ein Urvertrauen haben, schlecht behandelt und dann auch von ihr getrennt zu werden, das ist eine traumatische Erfahrung“, weiß auch Inka Peters aus dem Vorstand des Albert-Schweitzer-Familienwerks Mecklenburg-Vorpommern in Wolgast, einem sozial engagierten Verein im Bereich der freien Jugendhilfe. „Unser Familienwerk betreut jährlich bis zu 60 Kinder in besonders schwierigen familiären Lebenslagen und möchte ihnen ein zweites Zuhause geben.“

In ganz Deutschland seien allein im Jahr 2021 rund 47 .000 Kinder in Obhut, also aus ihren Familien genommen worden. Sie alle brauchen die vielfältigen Angebote der Jugendhilfe, weiß Inka Peters. „Überforderung mit den Kindern“ sei der meistgenannte Grund der Eltern, die ihre Kinder auf diese Weise abgeben mussten.
Auch interessant: Weniger Anrufe beim Kinderschutz-Telefon der Jugendämter
„Die Kinder werden aus den Familien viel zu spät herausgenommen“, kritisiert Rita Bohn aus eigener Erfahrung. Ist sie wütend auf diese Väter und Mütter, die ihren Kindern das antun? „Nein, wütend bin ich nicht, denn wenn unsere Arbeit hier beginnt, dann ist ja das Meiste schon passiert“, sagt sie. Wut würde da nichts nützen. Niemals würde Böses über die Eltern gesagt. Es gehe darum, auch mit den Eltern zusammenzuarbeiten, was nicht immer gelinge.
Erstmal den Frust rauslassen
In den insgesamt fünf Kinderdorfhäusern, einer Jungenwohngruppe und neun Erziehungsstellen leben Kinder und Jugendliche zumeist mit den pädagogischen Fachkräften zusammen, wie auch im „Nordlicht“. Und da trudeln mittags die ersten Kinder aus der Schule ein. Dabei gehen nicht alle in ein und die selbe Schule. Je nach Leistung und Möglichkeiten ist einer per Bahn unterwegs, andere zu Fuß oder mit dem Bus.
„Treffpunkt Küche” steht gegen 13 Uhr auf dem Tagesplan. Das Essen ist in Arbeit. Ben schüttet dennoch erst mal den Inhalt seines Tornisters aus. Fliegende Blätter, Frust und noch jede Menge Hausaufgaben. Wie soll er das alles noch schaffen heute? Zumal noch ein Hobby wartet: Sport. Rita Bohn setzt sich zu dem 8-Jährigen und begutachtet die Blätter, Hefte und Ordner. Erstmal den Frust rauslassen, das ermöglicht sie dem Jungen. Dann einen Plan machen, wie es am besten angegangen werden kann.
Mehr lesen: Anforderungen an Kinder- und Jugendhilfe rasant gestiegen
Viele Kinder hätten starke Verhaltensauffälligkeiten, weiß sie. Ohne Planung und Struktur gehe hier gar nichts. Jeder brauche seinen Platz, aber auch die Erkenntnis, dass es hier auch um alle geht. Und das ist gar nicht immer leicht. Denn teilen, Verantwortung übernehmen, an Grenzen stoßen und die mentale Last der Erlebnisse aus der früheren Zeit sind enorme Herausforderungen für die Kinder, denen Konstanz, Anerkennung, Angenommen-Werden oft jahrelang vorenthalten blieb. Ein Drittel der Kinder bleibt langfristig im Kinderdorf.
Hilfe gibt es auch nach der Zeit im Kinderdorf
Wegzaubern kann Rita Bohn mit ihren Mitstreitern das auch nicht, aber viele gute Erfahrungen, Normalität und eben Alternativen zum alten Leben der Kinder bieten, und die Zuversicht, geliebt und geschätzt zu werden. „Das ist immer wieder schön zu sehen, wie sie es annehmen, Vertrauen fassen, ihren Platz finden“, sagt Bohn.
Ihren Job als Heimerzieherin gab sie vor 13 Jahren auf, als die Entscheidung, Hausmutter in Wolgast sein zu wollen, gefallen war. Viele Kinder gingen ein und aus in dem bunten Haus. Die ersten sind längst in der Ausbildung, stehen auf eigenen Beinen. Viele lassen sie weiterhin an ihren Leben teilnehmen. Natürlich geht nicht alles glatt. Es gibt auch jene, denen der Start ins selbstständige Leben – in der Regel ziehen die Jugendlichen mit 18 bei Rita Bohn aus – nicht gelingt. Sie bekommen aber bei Bedarf weitere Hilfe.
Es ist dieser Moment, der Rita Bohn immer weitermachen ließ. Und auch andere: Der Moment, in dem plötzlich ein Lächeln über das sonst so ernste Kindergesicht huscht. Der Augenblick, in dem sich eine kleine Hand in die eigene schiebt und Vertrauen wortlos spürbar ist. Rita Bohn möchte diesen Kindern ein Zuhause auf Zeit geben, mit allem, was dazugehört. „Wir spielen, wenn die Kinder mögen, malen, essen gemeinsam. Aber wir gehen auch zu den Ärzten mit ihnen, manchmal sogar zu Elternversammlungen. Wie in einer richtigen Familie.“
Zoff, Tränen, Liebeskummer
Dazu gehöre natürlich auch mal Zoff, Tränen, Liebeskummer, Probleme in der Schule oder bei Freundschaften. Zudem falle es den jungen Menschen vor dem Hintergrund des Erlebten in früherer Zeit nicht immer leicht, mit Konflikten umzugehen, sich anzupassen. Dafür gibt es professionelle Hilfe. Zwei Sozialpädagogen stützen diese Gemeinschaft, um allen Aufgaben von Kita über Schule, in der Freizeit und ärztlicher Versorgung gerecht zu werden. Das Wichtigste sei, die Kinder so anzunehmen, wie sie sind. „Für mich ist das als Hausleiterin einer Kinderdorffamilie das A und O.“

Das, was einmalig im mecklenburg-vorpommerschen Wolgast und mit rund 500 Einrichtungen in neun weiteren Bundesländern in Trägerschaft der Albert-Schweitzer-Stiftung geleistet wird, kostet natürlich Geld. Denn für die gleichberechtigten Startchancen ins Leben, die es für alle Kinder geben soll, braucht es Kapital. Kleidung, Essen, Taschengeld… Wie in jeder Familie muss da gerechnet und austariert werden. Die Tagessätze pro Kind kommen vom Jugendamt, reichten aber „längst nicht aus“. Spenden und Fördergeld gelangten auch in diesen Topf. „Wenn man für Kleidung pro Kind 35 Euro vom Amt bekommt, dann ist es denkbar schwer, den jungen Leuten die Anschaffungen zu ermöglichen. Zumal, und das ist ja gut und normal, sich die Jugendlichen in ihren Schulklassen mit den anderen vergleichen. Das ist nicht einfach, ihnen da zu helfen und Wünsche zu erfüllen“, hat Rita Bohn in der jahrelangen Arbeit erfahren.
Lesen sie auch: Finanz-Skandal in der Jugendhilfe – viele Fragen offen
Apropos Wünsche: Für Geschenke stünden jedem Kind 74,51 Euro pro Jahr zur Verfügung. Wohlgemerkt für Geburtstag, Weihnachten und andere Höhepunkte wie Jugendweihe. Es gebe meist etwas Geld, aber in der Realität reiche das nicht aus, erst recht nicht, da vieles teurer geworden sei.
Abschied mit lachendem und weinendem Auge
Doch das sei bald Sache ihrer Nachfolger. Rita Bohn und ihr Mann werden im Sommer Lebewohl sagen. Die Kraft ist aufgebraucht, sagt die resolute Frau. Sie geht mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Nach den Jahren für die Kinder aus vielen Familien soll nun wieder mehr Zeit für die eigene sein, die Enkel, die beiden Söhne. Ihre beiden Jungs hätten einen guten Teil ihrer Jugend mit den anderen Kindern im Kinderhaus geteilt, saßen mit am großen Tisch und erlebten die Arbeit der Mutter, die Zuwendung auf andere Kinder. „Sie haben das verstanden. Auch wenn es gewiss nicht immer leicht und eben anders war, als unser Leben wohl ohne diese Aufgabe in Wolgast verlaufen wäre.“
Wer als Hausmutter oder Hausvater oder als Paar hier arbeiten möchte, muss einige Anforderungen erfüllen: Nicht nur, dass, sofern es wieder Hauseltern werden sollen, einer von beiden eine Fachausbildung benötigt. Es ist ein Manager-Job mit hohem Organisationsbedarf. Damit Jungs wie Ben nicht nur ein Vater-Foto an der Wand haben, sondern auch die Chance auf eines selbst bestimmte Zukunft.
* Name von der Redaktion geändert