Vorsorge und Hilfe

Sie fordern Suizid-Prävention an den Schulen in MV

Greifswald / Lesedauer: 6 min

Immer mehr junge Menschen leiden unter psychischen Problemen, die im schlimmsten Fall tödlich enden können. Es fehlt an Prävention in Schulen. Das wollen zwei Schülerinnen ändern.
Veröffentlicht:15.01.2022, 18:41
Aktualisiert:15.01.2022, 18:45

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Falls Ihre eigenen Gedanken darum kreisen, sich das Leben zu nehmen, sprechen Sie mit anderen Menschen darüber! Hilfsangebote finden sich am Ende des Artikels.

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Diese Meldung sorgte vor einigen Tagen für Bestürzung: Bis zu 500 Kinder sollen nach Suizidversuchen zwischen März und Ende Mai 2021, während des zweiten Corona-Lockdowns, bundesweit auf Intensivstationen behandelt worden sein. Dies geht aus einer Studie der Uniklinik Essen hervor. Doch auch schon vor Corona war die Zahl der Selbstmorde unter Kindern und Jugendlichen auf einem konstant hohen Niveau. So nahmen sich 2020 laut Statistischem Bundesamt 508 Personen unter 25 Jahren das Leben, 2019 waren es 471, 2018 wurden 531 solcher Todesfälle registriert. Damit gehört Suizid – nach Unfällen – zur häufigsten Todesursache bei Minderjährigen in Deutschland.

Petition für mehr Prävention

Trotzdem wird dieses Thema in der Gesellschaft noch immer weitestgehend tabuisiert, Präventivmaßnahmen gibt es kaum. Dagegen möchten zwei Schülerinnen aus Greifswald etwas unternehmen. Melanie und Leonie haben eine Online-Petition gestartet, mit dem Ziel, dass Suizidprävention an den weiterführenden Schulen Mecklenburg-Vorpommerns etabliert wird.

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Melanie (links) und Leonie vom Jahn-Gymnasium Greifswald haben eine Online-Petition gestartet, in der sie eine Einführung (Foto: Dajana Richter)

„Vielen Menschen sind diese Zahlen gar nicht bewusst und das hat bei mir eine Frustration ausgelöst. Ich dachte, es muss doch mal jemanden auffallen, dass hier etwas gewaltig schiefläuft. Aber in diesem Bereich passiert einfach nichts“, ist Melanie enttäuscht.

„Wir haben auch im Internet, zum Beispiel auf der Seite des Bildungsministeriums geschaut, was es dort für Präventionsangebote gibt. Da geht es um Mobbing oder Essstörungen, was natürlich auch wichtige Themen sind, aber Informationen über psychische Erkrankungen im Allgemeinen oder Suizidprävention fehlen komplett“, so die 17-Jährige.

Betroffenen rechtzeitig helfen können

Das Thema psychische Erkrankungen ist schon seit einigen Jahren im Freundes- und Bekanntenkreis der beiden Schülerinnen, die das Friedrich-Ludwig-Jahn-Gymnasium besuchen, präsent. „Ich habe mich dann immer mehr mit der Materie auseinandergesetzt, weil ich Betroffenen irgendwie helfen wollte. Ich habe angefangen zu recherchieren und achte seitdem bei anderen viel mehr auf mögliche Symptome“, erklärt Melanie.

Mit der Corona-Pandemie hätte sich die Situation verschärft, sind sich die Schülerinnen sicher. „Allein in unserem Jahrgang geht es einem Großteil, zumindest gefühlt, derzeit nicht so gut“, sagt Leonie. „Auch wenn sie deshalb nicht alle krank sind, so fühlen sie sich durch die Pandemie, das Homeschooling und die anstehenden Abschlussprüfungen doch sehr stark belastet.“ Und oftmals mit ihren Sorgen allein gelassen.

Irgendwann beschlossen die Schülerinnen, selbst aktiv zu werden. Trotzdem betonen sie, dass die nun gestartete Petition ganz unabhängig von der Pandemie ein sehr wichtiges Thema sei, über das mehr gesprochen werden müsse. „Ich selbst zähle mich auch zur Betroffenengruppe und ganz ehrlich, mir ging es schon vor Corona schlecht“, gibt Leonie offen zu. „Und es gab auch schon vorher psychische Erkrankungen in der Schule beziehungsweise Schüler, denen es schlecht ging.“ Aber es seien in den vergangenen Monaten mehr geworden. Das belegen auch erste wissenschaftliche Studien, die zeigen, dass die Pandemie bei jungen Menschen Sorgen und Ängste verstärkt hat – und damit einhergehend auch die psychische Belastung.

Akzeptanz der Erkrankung ist oft nicht gegeben

Nicht alle in ihrem Umfeld würden verstehen, warum sie das Thema in den Schulen ansiedeln wollen. „Bis jetzt liegt es in der alleinigen Verantwortung der Eltern, ihren Kindern etwas über den Umgang mit psychischen Erkrankungen oder Belastungen beizubringen. Und das machen sicherlich auch einige, aber bei Weitem nicht alle“, so Leonie.

Zudem sei es für Eltern oft nur schwer zu akzeptieren, dass ihr Kind eine psychische Erkrankung hat oder gar suizidgefährdet ist. Viele würden es eher als Stimmungsschwankung im Rahmen der Pubertät abtun. „Und dann kriegen einige vielleicht noch zu hören: ‚Reiß dich mal zusammen!‘“, macht die Schülerin deutlich. „Aber das geht nicht. Du kannst auch nicht zu jemanden mit einem gebrochenen Bein sagen: ‚Reiß dich zusammen und lauf weiter!‘“Aber selbst Erwachsene müssen oft noch um Akzeptanz kämpfen, wenn sie an Depressionen oder einem Burn-out erkrankt sind, Kindern und Jugendlichen wird eine solche Erkrankung nicht selten gänzlich abgesprochen.

„Es ist wichtig, dass das Thema viel mehr Aufmerksamkeit erfährt, damit sich Betroffene auch trauen darüber zu sprechen. Und wenn nicht mit den Eltern, dann mit einer anderen Vertrauensperson“, erklärt Melanie. „Aber darüber zu reden oder es sich selbst einzugestehen, ist unglaublich schwierig. Einige haben auch Hemmungen eine Therapie anzufangen, weil sie glauben, es geht ihnen dafür noch nicht schlecht genug. Bei keiner anderen Erkrankung werden die Symptome so heruntergespielt und das ist ziemlich erschreckend.“

Hilfe bei Erkrankungen

Seit Jahren gibt es in den Schulen die Suchtprävention, wo es um den Umgang mit Alkohol und Drogen geht. Warum nicht also auch eine Suizidprävention? „Ich würde eine Art Projekttag toll finden, wo man den Schülern die ersten Anzeichen einer psychischen Erkrankung näherbringt. Wie äußert sich zum Beispiel eine Depression oder eine Essstörung? Oder das es auch A-typische Versionen einer Erkrankung gibt, die von der Google-Antwort abweichen können“, erklärt Leonie.

In ihrem Vorhaben ermutigt wurden die Schülerinnen auch durch eine ähnliche Petition in Bayern. Dort wurden 2019 von Schülern über 42.000 Unterschriften gesammelt, damit die Aufklärung über Depressionen, Angststörungen und andere psychische Erkrankungen in den Lehrplan bayerischer Schulen aufgenommen wird. Mittlerweile gibt es ein Zehn-Punkte-Programm, das unter anderem eine alters- und entwicklungsgerechte Aufklärung beinhaltet.

Doch so viele Unterschriften haben die beiden 17-Jährigen aus Vorpommern bislang noch nicht zusammen. Seit November 2021 haben bislang über 465 Personen unterzeichnet. Da ist noch Luft – 6700 sollen es werden. „Es schreiben uns zwar viele Leute in den Kommentaren, wie wichtig sie unsere Forderung finden, leider wird die Petition aber kaum geteilt, um noch mehr Menschen darauf aufmerksam zu machen“, bedauert Melanie. Einreichen wollen sie die Petition aber auf jeden Fall. „Und was dann daraus wird, muss man sehen“, so die Schülerin.

Die Online-Petition finden Sie unter www.openpetition.de