Lernroboter auf Usedom

Trotz Krankheit im Klassenzimmer – Avatare vertreten Schüler

Zinnowitz / Lesedauer: 5 min

Was viele Schulkinder durch Corona erleben mussten, ist für Noah und Gabriel aus Zinnowitz Alltag: Homeschooling. Neuerdings stehen an ihrem Tisch in der Schule zwei ganz besondere Geräte. Die sind einmalig in MV.
Veröffentlicht:03.11.2021, 13:27
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  • Author ImageKai Ottenbreit
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Während der Pandemie mussten notgedrungen alle Schüler in Mecklenburg-Vorpommern mit Homeschooling Erfahrung machen. Die Belastung für alle Beteiligten war groß. Es gibt jedoch Kinder, für die Lernen zu Hause Alltag ist – Kinder, die so krank sind, dass sie nie zur Schule gehen können, Kinder im ewigen Lockdown.

Zwei dieser Kinder sind Gabriel und Noah aus Zinnowitz. Die 14- und 15-Jährigen von der Insel Usedom haben Myalgische Enzephalomyelitis, das chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS). Die Brüder sind geistig hellwach, körperlich schwer behindert. Jetzt gibt es einen Lichtblick für beide – zwei Lernroboter.

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Der Leiter der Ostseeschule Ückeritz, Peter Biedenweg, und die Mitarbeiter der Kolibri Hilfe für krebskranke Kinder aus Berlin haben sich für die Anschaffung der jeweils 5000 teuren Geräte eingesetzt. Beide Jungs haben je einen Double-Robotics-Lernroboter bekommen. Es sind die ersten Geräte dieser Art in Mecklenburg-Vorpommern.

Kinder verfolgen den Unterricht live

Bei einem Double-Robotic handelt es sich um einen Roboter, der sich stellvertretend für den Schüler mitten in der Klasse befindet, in der Regel am gewohnten Sitzplatz des Kindes. „Von zu Hause aus können unsere Kinder per Laptop den Lernroboter steuern, den Unterricht live verfolgen und so nun doch irgendwie aktiv am Schulalltag teilnehmen”, sagt ihre Mutter Birgit Nsaka. „Sie können sich per Mausklick melden und mit dem Roboter durchs Klassenzimmer fahren. Somit ist es ihnen möglich, wieder am kompletten Lernspektrum teilzuhaben. Es eröffnet ihnen endlich wieder soziale Kontakte zu ihren Klassenkameraden und Lehrern.”

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Birgit Nsaka beschreibt ihre Jungs als „wache, kluge Kinder mit intelligentem Geist, die begabt sind, voller Tatendrang, Lebenslust und kreativer Energie. Aber gefangen sind sie in Körpern, die gnadenlos sehr enge Grenzen setzen und jeden Versuch, die Grenzen zu übertreten, mit einem unvorstellbaren Energiezusammenbruch, sowie zahlreichen weiteren quälenden Symptomen quittieren”. Immer wieder seien die Kinder zu strenger Bettruhe gezwungen. Die neuen Lernroboter seien eine große Hilfe und würden den Kindern so etwas wie normalen Schulalltag ermöglichen.

Schon Zähneputzen kann zur Tortur werden

ME/CFS wurde bereits 1969 von der Weltgesundheitsorganisation als neuroimmunologische Erkrankung definiert. Nach Auskunft der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS gehört das, was die Zinnowitzer Jungs haben, „zu den letzten großen Krankheiten, die kaum erforscht sind”. Die Krankheit führe „zu einem hohen Grad körperlicher Behinderung”. In Deutschland seien rund 40.000 Kinder betroffen und bis zu 250.000 Erwachsene. Die Betroffenen würden unter körperlicher Schwäche leiden, dazu kämen Muskelschmerzen, grippale Symptome, Kopfschmerzen, Krämpfe, Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, Licht- und Geräuschempfindlichkeit und ein schlechter Allgemeinzustand. Schon nach geringsten Belastungen würden die Symptome auftreten. „Wenige Schritte, Zähneputzen, Duschen oder Kochen können zur Tortur werden.” Eine Besorgung im Supermarkt könne tagelange Bettruhe zur Folge haben. Schon das Umdrehen im Bett oder die Anwesenheit einer weiteren Person im Raum könne Auslöser sein.

„Laut einer Studie der Aalborg Universität ist die Lebensqualität oft niedriger als die von Multiple Sklerose-, Schlaganfall- oder Lungenkrebspatienten”, beschreibt die Gesellschaft für ME/CFS. Ein Viertel aller Patienten könne das Haus nicht verlassen, viele seien auf Pflege angewiesen.

Betroffene erhalten wenig Hilfe

Viele Eltern würden sich verausgaben, um ihren Kindern zu helfen. „Obwohl ME/CFS zu den Erkrankungen mit der geringsten Lebensqualität zählt, erhalten die Betroffenen keine adäquate medizinische Hilfe und soziale Versorgung” kritisiert die Gesellschaft für ME/CFS. „Die Krankheit wird seit Jahrzehnten in Deutschland unzureichend beachtet und verharmlost.” Für Betroffene gebe es derzeit wenig Aussicht auf Besserung, da es bisher keine zugelassene Behandlung oder Heilung gebe.

„Trotzdem”, sagt Birgit Nsaka, „sind unsere Kinder immer zuversichtlich und motiviert, wissbegierig und lernhungrig. Sie besuchten früher so gerne die Schule, spielten mit ihren Freunden und schmiedeten gemeinsam Pläne für später. Als das dann plötzlich nicht mehr möglich war, hielten sie über Telefon täglichen Kontakt zu ihren Freunden, ließen sich die Schulaufgaben von ihnen durchsagen und lernten in Eigenverantwortung”.

Dann sei ein langer Weg durch die Behörden gefolgt, bis eine Hausbeschulung genehmigt wurde. Gerade angelaufen, sei Corona dazwischen gekommen und die Hausbesuche seien weggebrochen. Wieder konnten die Kinder nur lückenhaft mit Lernmaterial versorgt werden, welches die Lehrer von Zeit zu Zeit in den Briefkasten warfen. Nachdem durch Corona Skypen mit ihrer Lehrerin und Aufgabenübermittlung über die Schulcloud möglich war, besserte sich die Situation wieder ein Stück. Doch erst die Lerncomputer sind für Noah, Gabriel und ihre Familie eine riesige Erleichterung.

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Birgit Nsaka weist auf eine Petition hin, die ihr sehr am Herzen liegt. Betroffene haben jetzt ein Gesuch an den Deutschen Bundestag gerichtet. Sie bitten den Bundestag, sich für eine der Krankheitsschwere von ME/CFS angemessene Versorgung einzusetzen. Ferner bitten sie, durch umfassende Investitionen in die biomedizinische Erforschung von ME/CFS den Kranken Hoffnung zu geben. Bis zum 9. November hoffen die Organisatoren auf 50.000 Unterschriften. www.signformecfs.de