Brücke nach Usedom

Viele Einheimische wollen keinen Zugverkehr hier

Karnin / Lesedauer: 8 min

Vor 76 Jahren wurde die Karniner Brücke zwischen Usedom und dem Festland gesprengt. Ein Zeitzeuge erinnert sich. Soll es eine neue Zugverbindung geben? Es gibt Argumente dagegen.
Veröffentlicht:22.07.2021, 08:30
Aktualisiert:06.01.2022, 21:59

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Es ist friedlich still im Dorf. In der Marina klettern verschlafene Freizeitkapitäne aus ihren Kojen. Auf dem Gästeparkplatz frühstückt eine Caravan-Crew, während nebenan ein Rentner in seinem Hausgarten Unkraut aus dem Blumenbeet zupft. Und über dem Peenestrom kreist ein Turmfalke, um Beute zu machen für die Jungen im Horst hochoben im rostenden Stahlskelett der Karniner Eisenbahnbrücke.

„Plötzlich kamen SS-Männer ins Haus”

Über 76 Jahre ist es jetzt her, seit hier der letzte Zug den Bahnhof Karnin passiert hatte. Der Morgen des 29. April 1945 ist Walter Gentz bis heute im Gedächtnis geblieben: „Vom Festland rückte die Front immer näher. Bei Ducherow wurde schon gekämpft. Der heftige Artillerielärm wurde immer lauter,“ sagt der heute 88-Jährige.

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Der heute 88-jährige Walter Gentz hat die Sprengung der Karniner Brücke kurz vor Kriegsende erlebt. Er wohnt noch im (Foto: Ralph Sommer)

„Plötzlich kamen SS-Männer zu uns ins Haus und sagten, wir müssten sofort hier raus“, erinnert sich Gentz. Damals war er zwölf, wohnte bei seinem Großvater Franz, gleich neben dem beliebten Ausflugslokal „Vadder Gentz“. „Wir packten schnell unsere Sachen, rannten hinunter zum Hafen und kletterten auf unser Motorboot mit dem überdachten Prahm. Dann hörte ich die Detonation. Das sei die Brücke gewesen, rief Opa. Gleich danach brachten hohe Wellen unser Boot ins Schaukeln. Ich kletterte an Land, auf einen Baum und hielt Ausschau. Die Brücke stand noch, aber nur noch die Hubbrücke mitten im Peenestrom. Die Zubringer waren fort.“

Später war noch einmal ein Kranzug nach Karnin gefahren. Der hatte dann die Gleise aus dem Damm gerissen und als Reparationsleistung in die Sowjetunion gebracht. Seitdem herrscht dörfliche Stille in Karnin. Erst nach der Wende wurden die Rufe nach einem Wiederaufbau der mächtigen Karniner Brücke lauter.

Züge sollen wieder über Südusedom zu den Kaiserbädern fahren

Seit Jahrzehnten bemüht sich der Verein Usedomer Eisenbahnfreunde darum, die historische Bahnverbindung wiederherzustellen, auf der einst Berliner Badegäste in zwei Stunden und 36 Minuten nach Usedom reisten. Ihr erster Vorsitzender, der vor einigen Jahren verstorbene Hans Nadler hatte sich immer wieder persönlich bei sämtlichen damaligen Bahnchefs dafür eingesetzt, dass irgendwann einmal wieder Züge über die Brücke zu den Usedomer Kaiserbädern fahren werden. Immerhin hatte er durchgesetzt, dass der Stahltorso im Peenestrom als Technisches Denkmal anerkannt wurde. Das Projekt Bahnstrecke aber hatte es nur mal zwischenzeitlich in den Bedarfsplan für Bundesschienenwege geschafft.

Heute leitet der Usedomer Sozialdemokrat Günther Jikeli den Verein, der etwa 70 Mitglieder zählt, darunter viele Berliner, sogar zwei Holländer, aber wenige Leute aus Karnin. Für die Vereinsfreunde steht fest, dass für die Karniner Brücke der Zug noch längst nicht abgefahren ist. Jikeli ist sich sicher: „Der erste Zug kommt in fünf Jahren“. Das möchte er noch erleben. Er wäre dann 81.

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So stellen sich die Usedomer Eisenbahnfreunde eine neue Zugverbindung auf die südliche Insel Usedom vor. Wie früher (Foto: NK-Grafik)

Expertenmeinung für 2,9 Millionen Euro

Nachdem das Projekt 2015 aus dem Bundesverkehrswegeplan gestrichen wurde, lässt jetzt das Land Mecklenburg-Vorpommern für 2,8 Millionen Euro eine Grundlagenuntersuchung durchführen. Unter Leitung der Engineering & Consulting DB Netz GmbH untersuchen Experten seit Dezember, ob und zu welchen Kosten die Bahnstrecke von Ducherow auf dem Festland bis nach Heringsdorf reaktiviert werden könnte. Die Ergebnisse der Studie sollen im kommenden Jahr vorliegen.

Viele Einheimische hegen inzwischen Zweifel, ob das marode Bauwerk tatsächlich wieder in Betrieb gebracht werden kann. „Die Konstruktion ist nach den vielen Jahrzehnten total marode“, sagt Wolfgang Mammai, der gleich am Hafen wohnt. Der 71-Jährige gibt an, sich auszukennen, hat selbst viele Jahre als Ingenieur bei der Bahn gearbeitet. „Der linke Stützpfeiler soll inzwischen nachgeben“, behauptet er.

Tatsächlich sind auch schon dem Eisenbahn-Fan Jikeli solche Hiobsbotschaften vom Zustand des seinerzeit noch in traditioneller Niettechnik montierten Denkmals zugetragen worden. Zwar hätten bislang die alle zwei Jahre vorgenommenen Messungen die Standfestigkeit des Bauwerks bestätigt, sagt der Vereinschef. Doch zuletzt seien wohl Befürchtungen aufgekommen, dass sich die Hubbrücke ganz leicht nach rechts neige.

„Alles andere wäre Romantik“

Im Unterschied zu früher räumen die Eisenbahnfreunde dem Erhalt der Brücke heute nicht mehr oberste Priorität ein. „Es geht uns nicht um die Brücke an sich“, stellt Jikeli klar. „Wichtig ist der Wiederaufbau der Bahnstrecke, und zwar exakt auf der ehemaligen Trasse.“ Und die Brücke? Steht die nicht unter Denkmalschutz? „Wenn die Verkehrssicherheit nicht mehr gewährleistet sei, sagt Jikeli, dann dürfte die alte Hubbrücke rechtmäßig demontiert werden und könnte Platz machen für eine neue Bahnbrücke über den Peenestrom. „Wenn erforderlich, muss die Brücke weichen, alles andere wäre Romantik“, sagt Jikeli.

Wer sich im Ort umhört, erfährt, dass mit Ausnahme einiger älterer Dorfbewohner die meisten Einheimischen keinen Zugverkehr haben wollen. Allen voran die Zugezogenen, die sich in dem idyllischen Inselfleckchen ein neues Leben aufgebaut haben. Zu ihnen gehört auch Sven Stiemer, erfolgreicher Geschäftsführer der Anklamer Bogensportwelt Handels GmbH, die in alle Welt Sportbögen, Pfeile und Armbrüste vertreibt.

Stiemer hatte vor Jahren den ehemaligen Bahnhof Karnin von dem in Geldnöten geratenen Verein der Usedomer Eisenbahnfreunde gekauft und zu einem lukrativen Wohnensemble ausbauen lassen. Das vermietete Gebäude mit 300 Quadratmetern Wohnfläche, 1.800 Quadratmeter-Grundstück, verglastem Anbau und traumhaftem Weitblick aus dem Dachgeschoss habe er vor knapp drei Jahren wieder verkauft, sagt er.

Nach Angaben der Heringsdorfer Ostsee-Immobilien Usedom GmbH ist die Immobilie inzwischen wieder verkauft worden – der Kaufpreis soll gerade mal bei 790.000 Euro gelegen haben. Hat womöglich die Aussicht auf eine neue Bahnstrecke vor der Haustür den Preis für den Ex-Bahnhof in den Keller getrieben?

Bürgerinitiative gegen neue Bahnpläne

Altbesitzer Stiemer ist Sprecher der Bürgerinitiative Karnin 21, die mit einem Aushang am Hafen für die Aufgabe jeglicher Bahnpläne wirbt. Die Arbeit ruhe seit 2015, sagt Stiemer. Die Mitglieder sind klar gegen die Nord-Süd-Transitstrecke über die Insel Usedom. Stattdessen fordern sie „eine schnelle und kostengünstige Verbindung nach Usedom über die Bahnstrecke Berlin-Stettin-Usedom“, um die Bahn für Usedom-Touristen attraktiver zu machen. Das „Hinterland von Usedom soll dagegen für naturliebende und Ruhe suchende Touristen weiterhin attraktiv bleiben.“

Jikeli dagegen plädiert dafür, dass im Rahmen des Trans-Europa-Netzwerkes (TEN) nicht nur die Trasse von Berlin über Stettin bis nach Swinemünde von der EU gefördert wird, sondern auch der Ausbau der Strecke Berlin-Stralsund und der Abzweig von Ducherow über Karnin nach Heringsdorf. Mehr noch: Unabhängig vom Bundesverkehrswegeplan müsste über einen Abzweig auch die Stadt Anklam an das Inselbahnnetz angeschlossen werden. „Dann hätten wir eine attraktive Rundbahn von Heringsdorf über Karnin, Anklam, Wolgast zurück nach Heringsdorf. Viele Usedomer Touristen könnten dann zum Beispiel mit der Bahn das Anklamer Ikareum besuchen, das mit gut 20 Millionen Euro gefördert wird.“ Bei einem Besuch im Schweriner Infrastrukturministerium wolle er demnächst das Thema ansprechen, sagt Jikeli.

Entscheidend aber wird am Ende wohl sein, wie viel Steuergelder Bund, Land und EU bereit sein werden in eine neue Usedom-Bahnanbindung zu investieren. Die Kostenschätzungen jedenfalls steigen von Jahr zu Jahr. Einst waren die Usedomer Eisenbahnfreunde noch von einem Gesamtaufwand von 155 Millionen Mark (79,25 Millionen Euro) ausgegangen. Im Jahr 2013 ging eine Studie von Kosten in Höhe fast 95 Millionen Euro aus. „Heute halten wir 150 bis 200 Millionen Euro für realistisch“, sagt Jikeli.

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Dr. Günther Jikeli, Chef des Vereins Usedomer Eisenbahnfreunde, zeigt eine historische Aufnahme von der später gespr (Foto: Ralph Sommer)

Gegner der Bahnanbindung

Eckhardt Rehberg, langjähriger haushaltspolitischer Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion, geht von mindestens 300 bis 350 Millionen Euro aus. „In den nächsten drei bis vier Jahren könnten diese sogar noch mal um 50 Prozent steigen“, sagt er. Die Peenequerung sei nur einer von vielen Kostenfaktoren. „Es müssten nicht nur auf 40 Kilometern neue Gleise gelegt, sondern in der Nähe vieler Wohngebiete müsste auch in Lärmschutzvorrichtungen investiert werden.“

Rehberg macht keinen Hehl daraus, dass er seit Jahren Gegner der umkämpften Bahnanbindung ist, über die dann zwangsläufig auch Güterzüge rollen würden. Er verweist darauf, dass Polen vor fünf Monaten mit dem Bau eines 209 Millionen Euro teuren Autotunnels unter der Swine begonnen hat. Er soll schon in zwei Jahren in Betrieb gehen. „Die Polen sind flexibel“, sagt Rehberg. Der Tunnel könnte dann auch für einen kombinierten Shuttle-Verkehr zum künftigen Tiefwasser-Containerhafen Swinemünde genutzt werden.

Ohnehin aber würde die EU nur dann Gelder für einen Wiederaufbau der Karniner Strecke bewilligen, wenn diese auch eine Zuwegung zu den Swinemünder Häfen einschließe, sagt Rehberg. „Das aber würde Verkehre von den Häfen Rostock und Mukran nach Polen abziehen. Wir sehen heute, dass die Unentschlossenheit der Schweriner Landesregierung im Streit um die Fehmarnbeltquerung, den ostdeutschen Häfen schadet. Wir müssen gut überlegen, ob wir unsere vorpommerschen Häfen in Greifswald, Wolgast, Stralsund, Vierow und Mukran sowie den Hafen Rostock wie zwischen zwei Mahlsteine schieben – im Westen die Fehmarnbeltquerung und im Osten der boomende Hafen Swinemünde.“

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Der Verein Usedomer Eisenbahnfreunde organisiert in Kooperation mit der Bahn AG gelegentliche Führungen mit einem Aufstie (Foto: André Hauck)

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