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DDR-Geschichte

Als russisches Radar auf Rügen das Westfernsehen störte

Rügen / Lesedauer: 8 min

Teile der Halbinsel Klein Zicker waren bis 1991 von sowjetischem Militär besetzt. Die Bewohner erinnern sich an etliche gute Kontakte. Doch es gab auch böse Überraschungen.
Veröffentlicht:02.10.2021, 06:00
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Klein Zicker liegt am letzten Zipfel der Insel Rügen und war immer ein Fischerdorf. Umgeben vom Greifswalder Bodden und dem Zickerschen See. Der kleine Hafen wirkt verwaist. Heute gibt es keine fahrenden Fischer mehr, nur im Nebenerwerb. Zu DDR-Zeiten waren es 18. Der Ort zählt noch 60 Einwohner und lebt im Sommer von den Touristen.

Wenn man heute auf dem Klein Zicker Berg auf Rügen steht, hat man einen freien Blick in alle Richtungen. Er wird von einem Trocken- und Magerrasen-Biotop überzogen. Hier wachsen Strandnelken, Weißdornschlehen und Wildbirnen. Am Steilufer nisten Schwalben. Kaum vorstellbar, dass hier von 1967 bis 1991 eine sowjetische Radaranlage existierte, tiefe Gräben den Berg durchzogen und Wellasbestgebäude standen.

Sie kamen über Nacht und störten den Fernsehempfang

Margot Mandelkow wohnt im letzten Haus an der Dörpstraat und erinnert sich: „Sie kamen über Nacht, im August, glaube ich. Da war ein riesiger Lärm auf der Dorfstraße, und dann hieß es plötzlich, dass ab morgen alles sowjetisches Territorium sei. Die Bevölkerung wurde nicht informiert, und vor unser Haus hatte man ein Offiziersgebäude gestellt. Wir konnten kein Wasser mehr sehen.“ Die Familie lebte 24 Jahre in unmittelbarer Nachbarschaft zur Radarstation, wo 60 Soldaten und Offiziere der Roten Armee stationiert waren.

Man baute Mannschaftsunterkünfte, eine große Wagenhalle und andere Gebäude. Bewaffnete Wachposten patrouillierten regelmäßig an ihrer Hecke entlang. Auf dem Berg standen vier Radargeräte, die den Luftraum überwachten. Ein Kennungsgerät hatte sogar eine Reichweite bis England. Diese Anlagen störten die Fernsehprogramme und den Radioempfang der Anwohner.

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Eigentümer verkaufte beschlagnahmtes Land nicht

Gisela Zorn, ehemalige Bürgermeisterin der Gemeinde Thiessow nach der Wende, lebte im letzten Haus auf der linken Seite der Dörpstraat und erzählt: „Wir hatten immer so kleine, feine Striche auf den Bildschirm und immer so ein Zischen und Fiepen. Wir haben uns dann bei der Post beschwert, aber es hat sich nichts geändert.“ 1985 haben sich die meisten Einwohner von Klein Zicker für eine Gemeinschaftsantenne entschieden, die sie selbst finanziert haben.

„Damit konnte man besser Westfernsehen gucken“, sagt Andreas Looks und lacht. Er ist der Sohn des Bauern, dem damals das größte Stück Land für den Bau der Anlage beschlagnahmt wurde. Der Staat wollte die Flächen kaufen für drei Pfennig pro Quadratmeter. Die Eigentümer haben nicht unterschrieben. Andreas Looks erzählt, dass die Offiziere, die zum Teil mit ihren Familien in Klein Zicker lebten, regelmäßig wechselten, damit der Kontakt zur Bevölkerung nicht zu intensiv wurde.

„Wir haben mal im Jugendalter mit einem Kommandanten Fußball gespielt, der war dann plötzlich wieder weg“, sagt er. Einige Familien seien aber befreundet gewesen, die Kinder haben miteinander gespielt. Auf dem Berg habe es eine Einkaufsmöglichkeit, ein „Magazin“ gegeben. Einmal in der Woche war es geöffnet und bot Dinge an, die man zu DDR-Zeiten schwer bekam.

Bei einem Brand haben sie vielleicht das halbe Dorf gerettet

Die Soldaten habe man nur zum Frühsport gesehen oder wenn sie in der Gemeinde geholfen haben, zum Beispiel beim Gräbenziehen oder als 1976 die Scheune von Bauer Looks brannte. Da habe ein Kommandant mit seinen Soldaten das Haus gerettet, vielleicht auch das Unterdorf, erinnern sich die älteren Einwohner. Es gab starken Ostwind damals, die Sirene hörte man in Thiessow nicht, und die Männer aus Klein Zicker waren an ihren Arbeitsorten.

Die Soldaten hätten ihre Wattejacken immer wieder in den Bodden getaucht, bis die Feuerwehr anrückte. Da war das Gröbste verhindert. Auch in dem harten Winter 1978/79 hätten die sowjetischen Soldaten mit ihren Lkw die Versorgung des Mönchguts gesichert. Sonst kamen sie nicht vom Gelände, nur illegal. Manchmal waren aus den Gärten Zwiebeln und Gurken verschwunden, oder auch mal Fisch im Hafen. Aber die Fischer hätten auch in größeren Abständen Kisten für sie rausgestellt.

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Für eine Feier das Radar abgestellt

„Das waren alles junge Bengels, die kamen zwei Jahre nicht nach Hause“, erinnert sich Helma Dieckmann, die mit ihrem Mann von 1980 bis 1991 die Gaststätte „Zum trauten Fischerheim“ betrieb. „Die Offiziere waren oft bei uns“, sagt Martin Dieckmann. „Zu Tanzveranstaltungen auch mit ihren Ehefrauen. Im Sommer hat es zwei Mal in der Woche Tanz gegeben, zum Teil brachten die Anwohner Stühle mit, wenn der Platz nicht reichte.“ Da sei es auch mal vorgekommen, dass die Radaranlage außer Betrieb gestellt wurde, um die Technik der Kapelle nicht zu stören.

Margot Mandelkow erzählt: „Die ganze Ostsee wurde lückenlos überprüft. Und zwar hieß es damals, da war doch der Sechstagekrieg Israel-Ägypten, die Israelis konnten gewinnen, weil es eine Radarlücke gegeben habe.“ Der Sechstagekrieg zwischen Israel und den arabischen Staaten Ägypten, Jordanien und Syrien dauerte vom 5. bis 10. Juni 1967.

Christian Wolff, ein ehemaliger Radaroffizier der Nationalen Volksarmee der DDR (NVA), erklärt, dass ein Aufklärungsflugzeug der Nato mit dreifacher Schallgeschwindigkeit regelmäßig die Grenze zwischen Nato und Warschauer Pakt abgeflogen sei und dabei auch kleinere Grenzabschnitte direkt überflogen wurden. Mithilfe von Funkaufklärung konnte aber schon der Start dieses Flugzeuges in Birmingham bemerkt werden, sodass die Luftabwehr gut vorbereitet war.

Russische Koordinaten am Telefonhörer

Das Kennwort dafür lautete „Jastreb“ – auf Deutsch: „Habicht“. Wurde dieses Kennwort übermittelt, wurden alle Radar- und Flugabwehr-Raketenstellungen entlang der deutschen Grenze und der Ostseeküste alarmiert. In Klein Zicker konnte man erkennen, welche Flugroute gewählt wurde.

Margot Mandelkow erzählt weiter: „Als das losging mit der Radaranlage, hörten wir jedes Mal, wenn wir telefonieren wollten oder nur den Hörer abnahmen, die ganzen durchgegebenen russischen Koordinaten. Dann haben wir uns an die Post gewandt: Wir wollen nicht, dass wir ständig Russisch in unserem Telefon haben. Und da kam die Post voller Entsetzen und hat schnell für die Russen eine extra Telefonleitung gelegt.“ Sie musste später in ihrer Stasi-Akte lesen, dass sie als Spionin für den Westen geführt wurde.

Höhere Prozentzahl an Krebs-Erkrankungen

In Klein Zicker gab es mehrere informelle Mitarbeiter der Stasi, die akribisch alles dokumentierten: wer welche Beziehungen zu den Offizieren oder Soldaten hatte, welche fremden Autos vor den Grundstücken standen und welche Geschäfte eine Einwohnerin des Dorfes mit eingekauften Waren aus dem russischen Magazin machte, indem sie die Waren weiterverkaufte.

„In Thiessow und Klein Zicker ist eine hohe Prozentzahl an Krebs aufgetreten“, sagt Margot Mandelkow. „Ich denke schon, dass die Strahlung Auswirkungen hatte. Auch Lubmin (DDR-Kernkraftwerk, seit 1974 in Betrieb; Anm. d. Red.) war nicht weit. Man kann es nicht beweisen, man kann es nur vermuten, und es wird wohl auch niemand Anzeige stellen, damit es erforscht wird. Viele Beweise sind vernichtet, und da kann man kaum was machen, und wem nützt es denn im Nachhinein?“

Die Radarkommission hat 2002 die gesundheitlichen Schädigungen von NVA- und Bundeswehrsoldaten anerkannt, die an Radargeräten tätig waren. Auf Anfrage an das Bundesamt für Strahlenschutz wurde mitgeteilt, dass die Strahlung der Radargeräte auf die Einwohner im Ort Klein Zicker indes keine Auswirkungen gehabt haben könne. Es gibt jedoch einige internationale Studien, die eine signifikante Häufung von Krebsfällen in einem Umkreis von drei Kilometern einer Radarstellung beschreiben.

So auch im Ort Vollersode in Niedersachsen, wo eine Radaranlage der Bundeswehr existierte. Die Auswirkungen von Störfällen im ehemaligen Kernkraftwerk Lubmin, dessen Schornsteine man heute noch auf dem Festland Richtung Usedom sehen kann, sind nicht untersucht.

Eingebuddelte Motorräder kamen zum Vorschein

Als die Wende kam, ging plötzlich alles ganz schnell. Die Radaranlagen waren von einem Tag auf den anderen verschwunden. Die Soldaten auch. „Dann kamen die Container, dann waren auch die Offiziere weg, ohne sich von uns zu verabschieden“, bedauert Gisela Zorn. Das Gelände wurde bis 1997 vom Bundesvermögensamt bewacht. Erst dann konnte die aufwendige Renaturierung durch den Landschaftspflegeverband Rügen e.V. beginnen.

Dr. Bernd Rost, ehemaliger Geschäftsführer, hat die Maßnahme damals geleitet und erinnert sich: „Wir mussten erst mal alles beräumen. Die Streitkräfte hatten den Berg regelrecht umgewühlt, mit Beton ausgekofferte Laufgräben, unterirdische Stellungen und so weiter. Wir fanden eingebuddelte Motorräder, einen Lkw und viel Schrott, der zu den Anlagen gehörte, und natürlich Müll.“

Manchmal komme es noch vor, dass Relikte der Vergangenheit an der Steilküste zu sehen sind. „Klein Zicker ist ein aktives Kliff, und es war nicht bekannt, wie viel planierte Müllgruben es gegeben hat“, sagt Bernd Rost. „Nach dem Rückbau und der Entsorgung aller gefährlichen Teile haben wir auch planiert, um das ursprüngliche Moränengebilde wieder herzustellen und haben dann eine Trockenrasenmischung ausgesät.“

Die Maßnahme hatte damals insgesamt 270.000 Euro gekostet und wurde vom Bundesumweltamt sowie der Lübzer Brauerei finanziert. Seit August 1998 kann man den Klein Zicker Berg in seiner natürlichen Schönheit genießen. Dass der Berg nicht touristisch zersiedelt und mit einer Hotelanlage bebaut wurde, ist auch der Gemeindevertretung Thiessow, der damaligen Bürgermeisterin Gisela Zorn und dem Biosphärenreservat zu verdanken.