Als Lok Leipzig einmal die ganze DDR berauschte
Leipzig / Lesedauer: 6 min

Thomas Krause
Das Klackern der Fußballschuhe, das gleißende Flutlicht im Leipziger Zentralstadion, die schwarze Wand aus Tausenden von Zuschauern – Hans-Ulrich Thomale hat den Beginn dieses Jahrhundert-Abends noch genau vor Augen, so, als wäre es erst gestern gewesen: „Es war unglaublich.“
Vor 35 Jahren, am 22. April 1987, warf der 1. FC Lok Leipzig im Halbfinale um den Europapokal der Pokalsieger die französische Starelf von Girondins Bordeaux im Elfmeterschießen aus dem Wettbewerb. Es war eines der aufregendsten Fußballspiele der DDR-Geschichte, ein irres Fußballspiel, ein Fußballspiel, an dem sich eine ganze Nation berauschte.
Plötzlich schoss der Torwart
Hans-Ulrich Thomale war der Baumeister der legendären Lok-Mannschaft, die damals dafür sorgte, dass ein ganzes Land hinter einem Fußballclub stand und am Ende völlig euphorisch war. Der 1. FC Lok Leipzig hatte das Hinspiel in Bordeaux durch ein Tor von Uwe Bredow mit 1:0 gewonnen. Doch im Rückspiel zwei Wochen später glichen die Franzosen früh aus, als Zlatko Vujovic bereits nach drei Minuten ins Lok-Gehäuse traf. Weitere Tore fielen in einem umkämpften Spiel nicht, auch nicht in der Verlängerung. Obwohl Lok noch eine Riesenmöglichkeit erhielt: Uwe Zötzsche versemmelte aber in der 108. Minute einen Strafstoß. „Ausgerechnet hier verschießt Uwe, der bei Elfmetern sonst immer ein Eisvogel war“, sagt sein ehemaliger Trainer.
Das Elfmeterschießen toppte dann alles bisher Dagewesene im DDR-Fußball. 5:5 stand es, auch weil Zötzsche wieder angetreten war und diesmal traf. Dann scheiterte Zoran Vujovic an Lok-Torwart René Müller. Ronald Kreer sollte der nächste sein, er konnte alles klar machen. Doch der Verteidiger war von Zweifeln geplagt und sah, dass sich plötzlich Müller den Ball schnappte. René Müller, der Torwart. Thomale kann sich an die Szene noch genau erinnern. „Das war nicht abgesprochen, aber ich wusste, René haut den rein.“ Tat er – und wie: Drei Schritte Anlauf. Vollspann ins Dreieck – Lok Leipzig stand im Finale um den Europapokal der Pokalsieger!
Mindestens 100.000 Fans dabei
Was sich danach abspielte, hatte es im DDR-Fußball, in dem Fans und Spieler immer ein wenig fremdelten, so noch nicht gegeben. Das Stadion war ein Tollhaus. Es gibt Leute, die sagen heute, es sei das emotionalste Fußballspiel der DDR-Geschichte gewesen. „Wir waren damals wie in Trance. Als wir vor dem Anpfiff im Stadiontunnel standen und schon ins Stadion blicken konnten, hast du nur eine schwarze Wand von Zuschauern gesehen“, erzählt Ulli Thomale 35 Jahre später. „Diese ganze Atmosphäre, diese Zuschauer, ich hatte nie das Gefühl, dass wir dieses Spiel verlieren könnten.“
Mit offiziell 73.000 Zuschauern war das Zentralstadion restlos ausverkauft. In der riesigen Betonschüssel drängten sich an diesem Abend aber mindestens 100.000 Fans. „Es gibt viele, die meinen, es waren sogar 120.000“, sagt Thomale. Als die Karten an den Kassenhäuschen ausgegangen waren, aber immer noch Tausende Fußballfans ins Stadion wollten, sollen Ordner sie gegen ein Handgeld von zehn Mark einfach durchgewunken haben. „Die Stimmung war unbeschreiblich, das hatte ich so noch nie erlebt“, blickt der Trainer zurück.
Virus durch Verpflegungsbeutel?
Dabei begann die Saison für Lok Leipzig mit einem Erlebnis, das viele Jahre zu den bestgehüteten Geheimnissen des DDR-Sports gehörte. Ulli Thomale erzählt mit einem lauten Lachen von einem wirklich „beschissenen Start“. Bei einer Wettkampfreise im Sommer 1986 in die Sowjetunion mit Freundschaftsspielen unter anderem gegen Lok Moskau erkrankte die komplette Lok-Truppe an der Ruhr, einer ansteckenden Durchfallkrankheit. Wo sich die Spieler die Ruhr holten, ist bis heute ungeklärt.
Thomale glaubt, sie hätten sich durch Verpflegungsbeutel, die man unterwegs bekommen hatte, den Virus eingefangen. Am Ende erwischte es auch den Trainer. Drei Wochen verbrachten die Kicker in Quarantäne in einem Leipziger Krankenhaus. Als einer der Letzten durfte Olaf Marschall raus. „Ich habe dann versucht, auf der Quarantänestation ein wenig mit der Mannschaft zu trainieren, um irgendwie halbwegs fit zu bleiben“, erzählt Thomale. Sogar das erste Punktspiel der neuen Oberligasaison Lok gegen Union Berlin wurde verschoben. Das hatte es noch nie gegeben. „Ich wollte gar nicht fahren. Aber die Reise stand unter dem Aspekt Freundschaft zur Sowjetunion. Ich musste mich beugen. Es war eine schlimme Reise mit katastrophalen Bedingungen“, erinnert sich der Lok-Trainer. An die Öffentlichkeit durfte nichts von der Erkrankung kommen. Alle im Lok-Umfeld wurden verdonnert, den Mund zu halten, um ja niemanden zu verärgern. „Wir bringen die Ruhr mit und dann noch von unseren Freunden, das passte ja nicht ins Bild“, erzählt der 77-Jährige.
Im Juni eroberten sichdie Leipziger den FDGB-Pokal
Für den damaligen Lok-Trainer grenzt es noch heute an ein Wunder, dass die Saison dann so erfolgreich verlief: „Ich hätte nie gedacht, dass wir aus dem Jahr noch so viel machen würden.“ Außer dem famosen Ritt durch den Europapokal der Pokalsieger legte Lok eine gute Meisterschaftssaison mit Rang drei hinter Dynamo Dresden und dem BFC Dynamo hin. Im Juni holte sich Leipzig den FDGB-Pokal nach einem 4:1-Sieg gegen Hansa Rostock. Vor 47.000 Zuschauern im Stadion der Weltjugend in Berlin hatten Dieter Kühn (2), Hans-Jörg Leitzke und Olaf Marschall den Rückstand (Heiko März) noch gedreht.
Das Endspiel um den Europapokal der Pokalsieger war zu dem Zeitpunkt schon gespielt. Am 13. Mai 1987 verlor Lok gegen das von Johan Cruyff trainierte Ajax Amsterdam mit 0:1. Marco van Basten schoss im Olympiastadion von Athen das entscheidende Tor, in der 21. Minute war er eine Sekunde eher am Ball als Matthias Lindner.
Finale gegen Ajax Amsterdam verloren
Die Frische und Unbekümmertheit aus den Spielen zuvor gegen Glentoran Belfast, Rapid Wien, FC Sion und Girondins Bordeaux hatten die Sachsen im Finale nicht mehr. „Man muss sagen, dass uns gegen Ajax der Saft fehlte. Und Ajax war eine Weltklasse-Elf“, sagt Thomale. Mit Spielern wie Marco van Basten, Frank Rijkaard, Arnold Mühren, John van‘t Schip und Jan Wouters wurden die Niederländer ein Jahr später Europameister.
Im Finale hatte Thomale seine Lieblings-Taktik mit drei Stürmern geändert, mit der Lok Leipzig bis dahin gut gefahren war. Aber Dieter Kühn plagte sich mit einer Rippenprellung herum, Hans-Jörg Leitzke war außer Form. „Wir mussten improvisieren“, sagt Thomale. So verstärkte er das Mittelfeld mit dem jungen Frank Edmond. Kurz nach der Pause revidierte er seine Entscheidung, brachte erst Leitzke, später auch noch Kühn. Ohne Erfolg. Im Nachhinein sei man immer schlauer: „Jetzt würde ich das vielleicht anders machen.“
Was bleibt, ist dieser Jahrhundert-Abend gegen Girondins Bordeaux, der in den Fußball-Geschichtsbüchern immer ein besonderes Kapitel einnehmen wird. Dieses Spiel begleitet Hans-Ulrich Thomale seit 35 Jahren, und er wird schnell emotional, wenn er vom 22. April 1987 erzählt: „Es war das größte Spiel meiner Karriere.“