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Hansa Rostocks wilde Wende-Zeit

Rostock / Lesedauer: 7 min

Rostocks Fußballclub ist kein Überflieger in der DDR-Oberliga. Doch als die Wende kommt, ist der Verein clever wie kein anderer und schafft etwas Einzigartiges. Auf dem Weg dahin brennt sich ein schreckliches Erlebnis ein.
Veröffentlicht:30.10.2019, 13:50

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Glas splittert, Frauen kreischen, Hunde bellen. Tschechische Milizionäre mit Schlagstöcken und Kalaschnikows stürmen den Zug, Tränengas wird versprüht. Wer protestiert, spürt Knüppel auf Kopf und Körper, versucht sich zu schützen. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung, aber in die Richtung, aus der er gekommen ist. Die Reise der Fußballfans von Hansa Rostock hat ein jähes, schmerzhaftes Ende gefunden.

„Das war die Nacht vor meinem 37. Geburtstag“, sagt Dietrich Kehl, damals Hansas Stellvertretender Clubvorsitzender. „Unfassbar, was da geschehen ist. Das werde ich mein ganzes Leben nicht vergessen.“ An jenem 27. September 1989 spielt der FC Hansa das Erstrundenrückspiel im UEFA-Cup bei Banik Ostrau in der CSSR. Es ist die erste Europacup-Teilnahme des Vereins nach 20 Jahren. Zwei Jahrzehnte zuvor hatte der Club vor 30 000 Zuschauern im Ostseestadion Inter Mailand mit 2:1 besiegt. Bei der Rückkehr auf Europas Bühne ist der Name des Gegners weniger klangvoll. Egal, Europacup ist Europacup, sagen die Fans.

Böses Erwachen im Bahnhof

Ihre Hoffnungen sterben noch vor dem Spiel. Rund 400 Rostock-Fans sind mit dem Fanzug nach Ostrau gefahren, haben über das staatliche Reisebüro oder die FDJ-Einrichtung Jugendtourist gebucht. „Kurz vor dem Spiel wurden wir als Verein informiert, dass der Zug in Ostrau im Bahnhof steht und die Leute nicht rausgelassen werden. Sie sollen furchtbar randaliert haben, alle besoffen sein und einen ganzen Waggon Alkohol dabei haben“, erzählt Kehl. Clubchef Robert Pischke schickt seinen Vize zum Bahnhof, um das Problem zu klären.

Dort angekommen, bietet sich Kehl ein martialisches Bild. Rund um den Zug stehen alle paar Meter Polizisten mit Maschinenpistolen und wütend bellenden Hunden. „Rein durfte ich nicht. Ich bin den Zug entlanggegangen, konnte reingucken. Da waren nirgends Besoffene. Da waren auch Familien mit Kindern. Die hatten sich auf das Spiel gefreut und jetzt Angst!‘“

Kehl fordert, den Einsatzleiter zu sprechen. „Da stand ich vor ihm, hinter ihm zwei Uniformierte mit Maschinenpistolen. Ich verlangte, alle aussteigen zu lassen. Der Typ hat mich ausgelacht. ‚Der Zug fährt zurück‘, sagte er. Ich brüllte: ‚Das könnt ihr nicht machen.‘“ Die beiden im Hintergrund treten vor und heben die Kalaschnikows. Kehl zieht wütend ab, muss zusehen, wie der Zug wieder aus dem Bahnhof fährt. Jemand zieht die Notbremse. Dann stürmen die Polizisten den Zug, eine Prügelorgie beginnt.

Die westdeutsche Botschaft in Prag ist in jenem heißen Herbst 1989 schon mit mehr als 3000 DDR-Bürgern zum Bersten voll. Im Politbüro und der Stasi-Zentrale in Ost-Berlin liegen die Nerven blank. Bloß nicht noch mehr Flüchtlinge, heißt der Kampfauftrag. Ihre Befürchtung: Fußball-Fans sind potenzielle Botschaftsstürmer. Also wird mit den tschechischen Bruder-Organen der perfide Plan geschmiedet.

Fußball nur Nebensache

„Die Sache mit den Fans haben wir kurz vorm Spiel erfahren, waren aber mit den Gedanken schon auf dem Rasen“, sagt Axel Schulz, damals Mittelfeldspieler und heute Koordinator Sport beim FC Hansa. Seine Truppe verliert mit 0:4, scheidet aus. Die Details von den Übergriffen erfährt die Mannschaft später. In den Wochen danach müssen die Spieler erleben: Je heißer die politische Lage, desto weniger Menschen interessieren sich für Fußball. Dann fällt die Mauer. Das Stadion ist oftmals leer: Begrüßungsgeld, Westen schnuppern, sind wichtiger als DDR-Oberliga. „Wir waren zum Schluss auf 2500 Zuschauer runter“, erinnert sich Kehl.

Die Mauerfall-Saison endet für Hansa auf Platz sechs. Sport gerät zur Nebensache. Die Wiedervereinigung steht bevor. Jeden Tag neue Botschaften, neue Enthüllungen. Die Menschen sind aus dem Häuschen, rechnen ihr Haben an DDR-Mark auf der Kreissparkasse in D-Mark um. „Uns Fußballern ging es gut, wir haben ordentlich verdient. Aber viele standen vor einer ungewissen Zukunft, waren von existenziellen Problemen bedroht“, sagt Schulz.

Im letzten Oberliga-Spieljahr der untergehenden DDR will der FC Hansa Rostock die Chance packen: 2. Bundesliga heißt das Ziel. Dafür muss sich Grundlegendes ändern. Aber wie? „Der Trainer wurde früher immer von der SED-Bezirksleitung bestimmt, da hatten wir als Club nichts zu melden“, erzählt Kehl. Auf einmal ist das anders.

Das Aufbruchssignal ist lila

Im Februar 1990 organisiert Hansa Rostock mit Werder Bremen das sogenannte „Lila Pause“-Spiel zwischen beiden Vereinen. Im Stadion und drum herum gibt‘s gesponserte LKW-Ladungen an Schokolade. Beide Vereine unterzeichnen einen Kooperationsvertrag. Danach schickt Clubchef Pischke Vize Kehl zu einem Europacupspiel von Werder ins Weserstadion. „Da fragte mich jemand in der Loge: ‚Was müssen wir tun, um Hansa Rostock in die Bundesliga zu bringen?‘“, erzählt Kehl. „Ich sagte: ‚Wir brauchen einen Trainer aus dem Westen.‘ Mein Gesprächspartner schaute in die Runde und meinte: ‚Da steht er.‘“ Es ist Uwe Reinders, Ex-Werderaner, Torjäger, Vize-Weltmeister.

Pischke willigt ein. Trainer Werner Voigt, mit dem ursprünglich eine Vertragsverlängerung abgesprochen ist, muss gehen. Verein und Reinders einigen sich auf ein moderates Gehalt. Eines ist für die Hansa-Führung jedoch kurios. Reinders will 200 000 Mark für den Meistertitel und auch 200 000 Mark für einen Pokaltriumph. Kehl: „Wir haben schallend gelacht. Was für eine verrückte Idee! Meister waren wir nie, Pokalsieger auch nicht. Wir haben sofort unterschrieben.“

Weil Pischke eine ordentliche Ablösesumme für Axel Kruse eintreibt, der sich vor der Wende im Sommer 1989 bei einem Testspiel in Kopenhagen absetzt und zu Hertha BSC türmt, ist plötzlich Westgeld da. Die Top-Spieler werden mit D-Mark-Prämien belohnt, wenn sie beim Verein bleiben. Bis auf eine Ausnahme bleiben alle. In anderen Oberliga-Vereinen grassiert dagegen das West-Fieber. Ansonsten ändert sich dort wenig: Trainiert wird wie eh und je nach jahrelang gepflegten Leitlinien des Deutschen Turn- und Sportbundes.

Hansa Rostocks Glücksgriff

In Rostock leitet Reinders den Umbruch ein, entlässt die Spieler aus der Stadion-Kasernierung, cancelt die 4000-Meter-Waldläufe, führt neue Trainingsinhalte und eine professionelle Organisation ein, reformiert den Speiseplan. „Gefühlt“, stöhnt Mittelfeldmann Schulz, „gab es von da an jeden Tag Salat und Wasser. Wir sahen alle ziemlich dünn aus.“ Und: Reinders sorgt für gute Laune. „Es gibt eine ganz einfache Formel: Training muss Spaß machen“, lautet sein erster Grundsatz. „Er war nicht viel älter als wir, hatte immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. Und er hat vorgemacht, wie man den Ball selbst nach grottenschlechten Flanken volley in den Winkel haut“, so Schulz. Die Spieler sind beeindruckt.

Aber Reinders muss auch lernen. Tag und Nacht will er sich von seinen Spielern anrufen lassen, wenn sie Probleme haben. Reinders: „Da sagt Juri Schlünz: Trainer, wir haben alle kein Telefon.“

Vom Mittelmaß zum Galionsteam

Die Verbindung Reinders und Hansa Rostock passt wie Deckel auf Topf. Über Jahrzehnte war der Club – ausgenommen die 60er-Jahre – das kollektive Mittelmaß. Mit Reinders wird das radikal anders. Früher war es eine Rostocker Gesetzmäßigkeit, auswärts zu verlieren. „Da war oft schon der erste Punkt weg, wenn wir aus dem Bus gestiegen sind“, gesteht Schulz. Jetzt lässt Reinders auch auf fremdem Terrain Volldampf spielen, nimmt dem Team Bescheidenheit und Scheu. „Das war meine schönste und erfolgreichste Zeit als Trainer“, sagt Reinders. „Keiner wusste vorher: Westtrainer und Ostmannschaft – geht das gut?“

Der aus dem Fernsehen bekannte Ex-Profi und die ungewohnte Siegesserie locken wieder Zuschauer an. Was niemand vermutet hat, tritt ein: Hansa Rostock holt in der letzten Oberliga-Meisterschaft seinen ersten Titel, schnappt sich auch noch den letzten Pokal und stürmt als Galionsteam des Ostens in den Europapokal der Landesmeister und in die Bundesliga.

Dort setzt sich das Fußballmärchen fort: 2:1 bei Bayern München, 5:1 gegen Borussia Dortmund. Doch dann der Einbruch. Neu-Präsident Gerd Kische, einst eisenharter Rechtsverteidiger bei Hansa, liegt mit Reinders im Dauerclinch. „Ich hab‘ 63 Länderspiele. Und wie viele hast du?“, ruft Kische triumphierend in die Trainerkabine und knallt die Tür zu. Reinders bringt es nur auf vier Berufungen. „Schon wenn in der Zeitung der Begriff Reinders-Team stand, hat Kische einen dicken Hals gekriegt“, erzählt der Bremer Ex-Trainer.

Hansa verliert immer öfter. Reinders muss gehen. Kurze Zeit später steigt der Verein ab. Drei Jahre später geht es wieder nach oben. Zehn Bundesliga-Jahre am Stück von 1995 bis 2005 stehen für die erfolgreichste Ära des Vereins. Dann wird das Auf und Ab zum Dauermodus.